Die Schotten müssen nicht viele Worte machen, und dafür schätze ich sie. Deshalb hier einfach nur die Bilder meiner heutigen Reise Cromarty Firth (Ostküste, im Norden von Inverness) nach Ullapool (Westküste). Wie immer werden Fotos dem schottischen Erlebnis nicht gerecht. Der Bericht zu meinem Tag mit Tree-Paul ist weiter unten zu lesen.
Morgens am Strand im Cromary FirthBonar BridgeKyle of SutherlandRiver Cassley bei RosehallLedmore JunctionHinter KnockanUllapool von oben
Es gibt Momente, die Menschen bis ans Ende ihrer Tage im Gedächtnis behalten werden. Einen solchen Moment erlebe ich, als ich etwa 18 Meilen vor Inverness gedankenverloren an der Straße stehe, als sich aus einer Einfahrt langsam ein VW Passat mit Bootsanhänger herausschiebt. Der Fahrer, ein älterer bärtiger Mann mit strähnigen langen Haaren, winkt mich heran. Er muss in meine Richtung, mehr weiß ich nicht, und so steige ich ein.
Die folgenden Stunden werde ich irgendwann einmal im Detail aufschreiben, doch ich werde scheitern, denn sehr viel davon können auch die bestgewähltesten Worte nur andeuten. Paul, so heißt der Fahrer, ist in den Augen einiger ein Naturmensch, in den Augen der meisten wahrscheinlich einfach ein Hippie. Er kann sanft wie ein Prediger sprechen, ohne dabei an Bestimmtheit zu verlieren. Dabei fuchtelt er mit den Armen, reißt ab und zu dreckige Witze und verbreitet bisweilen ein paar wunderliche Theorien über die Welt. Zwischendurch rülpst er immer mal wieder laut oder murmelt etwas vor sich hin. Auf der Kassette im Autoradio mischen sich Folk-Songs aus den Sechzigern mit schottischen Volksliedern. Paul mag keine Fragen, weil er beim Fahren nicht denken kann; doch er erzählt auch so gerne und eindrücklich. Er pflanzt Bäume in einem Radius von 50 Meilen rund um Inverness, vor allem Kirsch- und Haselnussbäume. „Ich verwebe Land und Wald“, beschreibt er seine Aufgabe. Wenn er unterwegs ist, schläft er auf einem Schafsfell auf dem Beifahrersitz, das Amaturenbrett ist voller Maskottchen, die er für mein Foto sorgsam drapiert, während wir am Straßenrand stehen und den Verkehr vorbeiziehen lassen.
Als ein Laster mit abgeholzten Bäumen vor uns auftaucht, hält er mich an, ihn zu fotografieren. „Ich pflanze Bäume und da vorne fährt ein Leichenwagen für sie“, sagt er nachdenklich, „das ist der Kreislauf des Lebens.“ Drei Wochen ist Paul inzwischen ohne Unterbrechung unterwegs, heute muss er noch ein paar Kirschen ableeren und Kerne sammeln. Bereitwillig komme ich mit, ihm zu helfen. Wir passieren die mächtige Brücke von Inverness, während das Meer unter uns machtvoll die Sonne spiegelt. „Das ist mein Land“, wendet sich Paul mir zu, „und es gehört jetzt alles Dir.“
Wir enden in Black Isle, einem Ortsverbund etwas oberhalb von Inverness. Paul kennt die Gegend und die Gegend kennt Paul, ein paar Kinder haben bereits Kirschen für ihn gesammelt, er gibt ihnen ein bisschen Geld dafür. In der Nachmittagssonne sammeln wir die Kirschen, plaudern und schweigen, Verkehr und Meer rauschen irgendwo dort unten, wo die Ernte längst vorbei ist.
Als wir eine Pause machen, deutet Paul in die Weite des Landes. „Hier gibt es alles, was wir brauchen. Meer, Regen, Vegetation, Berge“, sagt er, „wir haben Glück.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt er nachdenklich: „Hier lebten einmal fröhliche Menschen, die im Einklang mit allem waren. Doch dann wurde alles zerstört, erst kamen die Römer, dann die Wikinger. Die Kriege hörten nicht mehr auf.“ Er sieht mich bestimmt an und sagt: „Auch wenn der Schmerz der Erinnerung nur kurz ist, kann er sehr weh tun.“
Wenig später sind wir auf dem Weg zu ihm nach Hause, er hat mich eingeladen. Ich erfahre, dass Paul früher Pilot bei der Airforce war und vor drei Jahren eine Herzoperation hatte; seinen sehnigen Körper schont er dennoch nicht. Während wir von den Hügeln ins flache Hinterland an der Küste hinabfahren, bringe ich ihm deutsche Wörter wie „Sehnsucht“ oder „Stubenhocker“ bei, mit denen er seine deutschen Freunde in einer Hippiekolonie 20 Meilen entfernt beeindrucken und ärgern will, wie er lachend erklärt. Wir sprechen über die schottische Geschichte, über die Paul von A bis Z Bescheid weiß, und den Ursprung der Sprachen. „Once, ’normal‘ and ’natural‘ had the same meaning, were almost one word“, sagt er, „now, it has become completely the opposite.“ Das „Normale“ ist für ihn ein Werkzeug, dass er manchmal aus seiner Tasche holt, zum Beispiel wenn er die Früchte seiner Arbeit verkauft, um Geld zu verdienen.
Über Schafsweiden landen wir schließlich bei ihm zuhause, einem abgelegenes Haus am Cromarty Firth in der Nähe des Meeres und dem Schatten der Berge am anderen Ufer, inklusive Selbstversorger-Garten. Drinnen heizt der Holzofen, doch Paul und sein einzig anwesender Mitbewohner, ein meditierender amerikanischer Highlandgeschichte-Student mit Vollbart, schlafen lieber in ihren Wohnwägen. So bleibt mir und den Katzen das komplette Haus. Spätabends, während ich am Küchentisch sitze und in Walt Whitmans „Leaves of Grasss“ lese, das eine Couchsurferin bei meiner vorherigen Station vergessen hatte, wuselt Paul umher, kocht, murmelt, singt Lieder und spielt Gitarre dazu und schenkt mir von seinem Fruchtbier ein. Wir haben Glück.
Heute habe ich den großen Sprung gemacht: Mit dem Flieger von Norwegen nach Schottland. Der Besuch von Aberdeen wirft allerdings ein paar Fragen auf. Zum Beispiel, ob das Stadtplanungsamt traditionell in der Hand von Trunkenbolden liegt. Die Neigung, über Jahrhunderte die reichlichen Granitvorkommen ein paar Kilometer vor den Toren der Stadt zum Bau von wirklich allem zu nutzen und Aberdeen damit je nach Wetterlage einen grauen bis schwarzen Anstrich zu geben, mag ebenso wirtschaftlich begründbar sein wie der gigantische Güterhafen, der fast den gesamten Meereszugang der Stadt einnimmt.
Architektur, im Pub ausgekaspert
Wie die Schnapsidee einer Pub-Zusammenkunft wirkt dagegen die Idee, zwischen Meer und dem Aberdeen Castle, der größten Sehenswürdigkeit, einen gigantischen Wohnklotz hinzustellen. Auch der bizarre Vergnügungspark hinter dem Stadtstrand, wo von Euro-Dancefloormusik unterlegt 18-jährige Mütter ihre Kinder in Burgerbuden schleppen, während die Väter an Spielautomaten kleben, gibt der Stadt einen ganz besonderen Charme.
Keine FotomontageVergesst LAEinsames Windrad
Ebenfalls auffällig: Die meisten Kirchen der Stadt sind zweckentfremdet, diese hier zum Beispiel zum Casino.
Lasset die Spieler zu mir kommen
Doch genug zur Stadtplanung, Aberdeen ist ja für mich nur Startpunkt für Schottland. Eigentlich wäre ich vom Flughafen schon beinahe nach Inverness getrampt, doch da mich eine halbe Stunde niemand mitnahm, machte mich auf den Weg in Stadt und zum Strand – wo ich als Kind im Schottland-Urlaub, wie ich mich erinnere, Federball gespielt habe. Eisiger Wind und das hier ganzjährig übliche Aprilwetter dürften in den nächsten Tagen zu meinen Begleitern werden – und in den Highlands dürfte ich kaum die Chance haben, mich in der Bowlingbahn des Sunset Boulevards aufzuwärmen.
Sandsturm und Flut
Die Kälte erklärt auch, weshalb hier die Pub-Kultur so ausgeprägt ist, die ich gleich mit meinem Couchsurfing-Gastgeber Aapo ausprobierte.
Schottische Sonntagabende
Aapo stammt eigentlich aus Finnland, studiert aber seit einem Jahr hier – und mag den Wind und die Kälte. „Mehr als 20 Grad sind mir zu viel“, sagt er, während wir auf dem Weg zu seiner Studentenbude sind und mir gerade der Hintern abfriert.
Gibt es eine besser Art, seinen Samstagabend zu gestalten? Nachdem ich an einem ausverkauften Royksopp-Konzert im Park vorbeigekommen bin, lande ich im Hafen Oslos.
Die Lichter der Stadt leuchten einige hundert Meter weiter, neben den Regentropfen ist nur das Tuckern eines Kutters zu hören, der gerade einfährt. Nicht weit von mir sitzen zwei junge Norweger mit Bart, sie haben ihre Angeln ausgeworfen – ich wüsste nicht, wie man einen solchen Abend besser verbringen könnte.
Das also ist es, das norwegische Hauptstadtleben, zumindest ein Teil davon. Viele Dinge gehen mir durch den Kopf, der Weg hierher, meine Reise an sich, doch ich halte inne. Es ist nicht einfach, auf Reisen in der Gegenwart anzukommen. Oft überlegt man sich, wie man ein Erlebnis seinen Freunden schildern wird, welche Bilder man nun aufnehmen sollte, was das alles bedeutet. Doch in diesem Moment gelingt es mir, mich auf die Stille zu konzentrieren, das Geräusch des Kutters, das langsam leiser wird. Nichts sonst, keine Gedanken.
Ich erwache, als zwei Menschen hinter mir vorbeilaufen. Eine ältere Dame hat sich bei einem Mann eingehackt und sagt „Jetzt wo ich die Schuhe eingelaufen habe, geht es“. „Ja, siehst Du, alles wird“, sagt der Mann lächelnd, und es hört sich nach Güte und Zärtlichkeit an. Ob ich in ein paar Jahrzehnten ebenfalls hier entlanglaufen werde, von dieser Samstagnacht in Oslo erzählend, als ich in die Stille des Meeres eintauchte, so nahe an den Lichtern der Stadt?
Den größten Lacher des Tages erntete ich heute von Simon, dem Münchner mit dem Kajak, bei der Präsentation meines Regen-Outfits. Ich gebe zu, vielleicht sind die Flaggen (während des Trampens hinter meinem Kopf hervorragend) etwas übertrieben – sie sollen angeblich dabei helfen, mitgenommen zu werden – dennoch fühlte ich mich perfekt vorbereitet.
Simons Lacher blieb erst einmal für lange Zeit der einzige. Fiese Regenschauer von oben, mich ignorierende Skandinavier von vorne – von 10 bis 14 Uhr stand ich entweder sehnsüchtig den Daumen haltend an der Straße, lief die Autobahn auf der Suche nach einem besseren Platz entlang oder biss vor Wut in meinen Regen-Poncho. Auch wenn es nach 40 Minuten zu regnen aufhörte, trieb mir die Machtlosigkeit die Wuttränen in die Augen – zum ersten Mal wäre ich lieber zuhause als unterwegs gewesen. Nach einigen lauten Flüchen überlegte ich schon, mich zu Fuß auf den Weg in die nächste Stadt zu machen und dort den Bus nach Oslo zu nehmen.
Wunderschön, diese Leitplanken
Doch ich hatte Glück: Auf einem Parkplatz im Naturschutzgebiet einige Kilometer hinter Karlstad hielt ein deutsches Auto, dessen älterer Fahrer sich trotz voller Ladung breitschlagen ließ, mich vor dem Einsetzen des nächsten Schauers bis zu dem Punkt mitzunehmen, wo sich die Autobahn in Richtung Göteborg oder Oslo abzweigt. Roderich heißt der Engel, kommt aus dem Siegerland und ist Skandinavien-Liebhaber. Vor 40 Jahren arbeitete er das erste Mal in Finnland auf einem Bauernhof und kehrte seitdem immer wieder in die Gegend zurück. Doch der Bauernhof, auf dem er noch viele Jahre später häufig zu Gast war, ist inzwischen abgebrannt: Angezündet vom Besitzer, der sich noch am gleichen Abend erschoss. „Es gibt keine Stunde, in der ich nicht an Finnland denke“, sagt mir Roderich zum Abschied. Die Melancholie in seinen Augen würde einem echten Finnen alle Ehre machen.
Ins Licht
Ich gehe ein paar hundert Meter weiter, voller Hoffnung, nun doch noch den Weg nach Oslo zu meistern. Passend dazu wird die Landschaft bereits felsiger, die Regenfälle der letzten Stunden finden nun in kleinen Felswasserfällen den Weg aus den Wäldern. Und wirklich habe ich unglaubliches Glück: Johan aus Karlstad ist gerade auf dem Weg zur Arbeit auf einer norwegischen Offshore-Bohrinsel. Er nimmt mich fast bis nach Oslo mit und erzählt mir viel über Schweden und Norwegen, zum Beispiel, dass Autos in Norwegen für Fußgänger immer stoppen müssen, sobald diese ihren Fuß auf die Straße setzen.
Keine Zeit für den Sprung ins kalte WasserWetterfestNordseehorizonte
Während der kurzweiligen Fahrt kommen wir an Landschaften vorbei, die ich weder mit meiner kleinen Handykamera adäquat festhalten, noch beschreiben kann. Seen, Weiden, grüne Wälder und ein Wetter, dass sich minütlich zu ändern scheint, sobald sich die hohen Wolkentürme dunkel färben. Es ist nur ein kleiner Eindruck, den ich von Norwegen erhalte, doch es ist ein mächtiger. Da kann Oslo, die Stadt an der Nordsee, fast nicht mithalten. Was sind schon menschliche Bauwerke im Vergleich zu den Wundern, die Wind, Sonne und Regen in die Landschaften über Jahrmillionen in die Landschaften zeichnen.
Stadt der roten Ampeln
Morgen mache ich mich auf den Weg in eine weitere Wunderlandschaft: Um 11 Uhr fliege ich nach Schottland.
Dieses Symbolbild hier zeigt nicht meine, sondern die Schuhe von Simon aus München, mit dem ich ein Jugendherbergszimmer teile. Es ist ein Akt der Gnade, dass er sie nicht im Zimmer stehen lässt, immerhin haben sie zehn Tage Kajaktour hinter sich. Mit meinem bayerischen Gefährten habe ich gestern auch das Nachtleben erkundet, Clubs mit Holzböden, hübsche Menschen, unbezahlbares Bier. So unbezahlbar, dass Simon nun überlegt, die nächsten Tag zu campen, bis er wieder am Monatsanfang Geld auf dem Konto hat. Leider regnet es allerdings, was auch meine Reise wenig angenehm machen könnte.
Blondinen bevorzugt
Heute ist Bergfest, da die Hälfte meiner Reise um ist, und tatsächlich könnte es ein steiler Weg werden: Meine heutige Tour soll mich nach Oslo führen – von dort geht es dann Sonntag mit dem Flugzeug weiter, wie von Euch gewünscht. Ich habe für morgen noch einen relativ günstigen Flug nach Aberdeen in Schottland gefunden, von wo ich erst nach Norden, dann nach Westen und per Fähre nach Nordirland/Irland aufbrechen möchte. Die genaue Route überlege ich mir heute Abend, jetzt aber geht es erst einmal wieder raus in den Regen auf die Straße.
Vielleicht habe ich zu viele Horror-Filme gesehen, aber irgendwie erinnert mich mein Hostel an das Hotel aus „The Shining“. Es ist das Ende der Sommersaison hier in Schweden und dementsprechend verlassen ist das Haus hier, eine ehemalige Kaserne, die durchaus fein eingerichtet ist. Wenn ich nun gefragt werde, ob ich den Hausmeisterjob für den Winter übernehmen soll, seile ich mich aus dem Fenster ab.
Natürlich trügt der Eindruck, denn wenige hundert Meter von hier geht die Autobahn, etwas weiter über den Fluss liegt Karlstad, eine Stadt mit 85.000 Einwohnern im Westen Schwedens, nur 220 Kilometer von Oslo entfernt. Weil sie damit ein wichtiger Handelsknotenpunkt ist, bietet die Stadtarchitektur neben der üblichen skandinavischen Gruppierung (lange Fußgängerzone mit Stichstraßen zur Hauptstraße, großer Marktplatz mit Busanbindung) durchaus prachtvolle Gebäude.
Städtchen am Fluss
Der Weg hierher hat mir einmal mehr gezeigt, weshalb ich diese Art zu reisen so liebe – auch wenn es inzwischen eine Routine ist, sich an den Rand der Autobahn zu stellen. Heute früh hatte sich an der Rezeption noch folgender Dialog abgespielt:
Ich: „Is it difficult to hitchhike in Sweden?“
Rezeptionistin: „Well, nobody does it here, so they might just think you’re a lunatic.“
Doch alle Befürchtungen entpuppten sich zumindest heute als falsch: Nie musste ich länger als zehn Minuten warten, dazu machte ich auch noch Bekanntschaft mit sehr angenehmen Menschen.Die blonde Helen, Anfang 50, nahm mich 30 Kilometer mit und schwärmte mir auf ihre eigene, ganz schüchterne Art vom Norden Schwedens und den Menschen dort vor. Kurz darauf saß ich bei Naseem im Auto, eine Beraterin, deren eigentliche Passion jedoch das Schreiben ist. Gerade hat sie einen Produzenten gefunden, der ihr bislang erfolgloses Buch verfilmen möchte. Diskussionen über den Plot (eine Frau zieht vom Land nach Stockholm und erlebt dort, wie sich ihre Persönlichkeit verändert) folgten Debatten über Schweden an sich, den Sinn des Lebens und berufliche Auszeiten (Reihenfolge beliebig).
Naseem ist eine sehr gut gelaunte Frau (mit indischen Wurzeln, wer sich über den Namen wundert), die viel und gerne lacht – und sich dabei so tief ins Gespräch vertieft, dass sie sogar ihre Ausfahrt in Örebro verpasst. Als sie ihr Auto wieder in die richtige Richtung navigiert, übersieht sie einen Kleinwagen auf der Vorfahrtstraße, der uns beinahe in die Seite rauscht und laut hupt – doch Naseem und ich lachen einfach.
Erik, ein älterer Herr, der mir ganz höflich bei der Verabschiedung seinen kompletten Namen nennt, fährt mich einige Kilometer weiter, worauf ich im Wald stehe. Ich bereue es fast ein bisschen, die Wälder nur als Umrahmung von Straßen wahrzunehmen, aber selbst das genügt, um mir ein Gefühl der Freiheit und Erholung zu geben – auch wenn es bei 13 Grad und Wind aus Norden dann doch schon recht herbstlich ist.
Bloggertramp im Wald
Bis kurz vor Karlstad nehmen mich zwei Exil-Iraker mit. Einer von ihnen, Sardut (so die Lautschreibweise), kann sehr gut Englisch. Witzigerweise ist er Sunnite, während der Fahrer Schiite ist. „Warum klappt das hier im Auto und in Eurem Land nicht?“, frage ich, doch Sardut winkt ab. Er hat in Bagdad im sunnitischen Dreieck gelebt und für die US-Armee als Übersetzer gearbeitet. „Drei Mal wäre ich fast erschossen worden, drei Mal von US-Soldaten“, klagt er – ist aber eigentlich ein prächtig gelaunter Typ, der in seine Erzählungen immer mal wieder einen Witz einstreut, oft auf Kosten Amerikas.
Frieden, so ist er sich sicher, wird es auf absehbare Zeit nicht geben – weshalb er mit seiner Familie vor fast zwei Jahren nach Europa ausgewandert ist. „Keine Aschenbecher in Volvos, was ist das für ein komisches Land“, scherzt er, während er an seiner Kippe zieht. Vom Irak in der Zeit nach Saddam berichtet er voller Zynismus und mit großer Klarsicht, sobald al-Maliki nicht mehr an der Macht ist, wird der Schiitenführer Muqtada as-Sadr zum wichtigen Mann im Hintergrund.
Dazu erzählt er noch äußerst einprägsame Anekdoten. „In Bagdad herrschte ab 23 Uhr immer eine Ausgangssperre, im Fernsehen und Radio gab es Durchsagen, dass jeder, der zu diesem Zeitpunkt noch auf der Straße ist, ohne Vorwarnung erschossen werde. An einem Abend kam ein Iraker um fünf vor elf mit seinem Auto an den Kontrollpunkt. Ein irakischer Soldat nahm seine Waffe, und erschoss ihn ohne Vorwarnung. Der US-Soldat, der mit ihm am Checkpoint stand, schrie ihn entsetzt an: ‚Warum hast Du das getan, wir haben doch noch nicht elf!‘. Daraufhin entgegnete der irakische Soldat: ‚Ich weiß wo er wohnt, das ist drei Kilometer von hier – er hätte das niemals mehr rechtzeitig dahin geschafft.‘ “ Sardut lacht kräftig, als er die Geschichte/urbane Legende erzählt. In den Irak will er nie mehr zurückkehren.
Auch wenn Skandinavien für mich gerade erst tramptechnisch beginnt, ist es ja eigentlich bereits die Zielgerade meiner geplanten Tour (eine lange Zielgerade, wie ich befürchte). Das passt auch zeitlich, denn Samstag ist hier Halbzeit. Nun stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll: Als ich mit den Planungen vor einiger Zeit begonnen habe, hatte ich auf eine Fährverbindung von Norwegen zu den britischen Inseln gehofft. Diese gibt es nicht – weshalb ich nun einfach einmal ein paar Alternativen zur Wahl stelle.
1. Bis Oslo, danach mit dem Flieger nach Irland oder Schottland. Ist mir sehr sympathisch, da ich die britischen Inseln sehr gerne mitnehmen würde, trotz des Regens und der widrigen Umstände.
2. Bis Oslo, danach weiter mit dem Flieger Richtung Süden. Auch wenn das Wetter verlockend ist: Spanien und Italien sind nicht schön zu betrampen, es könnten zwei Wochen mit ziemlichem Leerlauf werden.
3. Über Norwegen runter nach Kopenhagen, von da weiter mit dem Flieger. Prinzipiell kein Problem, je nachdem, wann ich in Kopenhagen ankomme, könnte es aber von meinem Ziel dort knapp werden.
4. Über Norwegen wieder Richtung Süden, durch Deutschland. Zeitaufwändig, schätze ich.
5. Über Kopenhagen zu den britischen Inseln, aber auf dem Landweg (bzw. per Fähre in Frankreich). Wäre wahrscheinlich sehr aufwändig, da mein Weg von Süden nach Norden führt und ich ne Schleife für den Rückweg einplanen muss.
Ihr könnt in diesem Twtpoll bis morgen Abend abstimmen.Ich habe selbst noch keine Entscheidung getroffen und hoffe auch auf kluge Kommentare – vielleicht fällt ja jemandem eine machbare Route ein, bei der ich nicht nach zwei Wochen in Island rumsitze.
Heute war ich nicht unterwegs, und dennoch war der Tag bislang anstrengend. Gerüchten zufolge könnte das an dem kleinen Kater liegen, den ich seit heute morgen mit mir herumschleppe und der mich dazu bringt, mich nur mit Hilfe von Kaffee künstlich am Leben zu halten. Was müssen diese Fähren aber auch zur unchristlichen Zeit um 6:30 Uhr anlegen!
Die gestrige Nacht auf dem Boot war amüsant wie unaufgeregt, meine Kabinengenossen stammten aus Kanada, China und dem Libanon. Bret aus Kanada studiert das nächste Semester im gleichen finnischen Ort wie einst ich, was mich kurzfristig an einen Identitätsdiebstahl á la „Der talentierte Mr. Ripley“ denken ließ.
Meine Zimmergenossen ließen es ruhig angehen: Als ich nach einer halben Stunde „Toni“ aus China fragte, ob ihm das Schiff gefalle, antwortete er höflich „Ja“ – um sich eine halbe Sekunde später umzudrehen und ins Bett zu legen. Deshalb verpasste er sowohl die altbekannte melancholische Tango-Stimmung, als auch schrecklichen Euro-Dance (der mich zu verfolgen scheint) in der Bord-Disko. Ich selbst verbrachte einen Gutteil des Abends in Debatten mit zwei finnischen Segel-Geschäftsmännern, Kristoffer und Anders.
Mobile GeisteszentraleWas Frauen wollenPortrait des Bloggers als junger LebenskünstlerErleuchtungsmaschineThere's a time in life to tangoKristoffer und Anders sind begeistert von meiner Idee, ein Bild zu machen.You said "dance or die" and I chose death
Auch in Stockholm ist der Herbst eingezogen, mit dicken Wolken und 12 Grad heute morgen – was mich aber nicht hinderte, meine Sonnenbrille aufzusetzen, um dem giftigen Tageslicht zu trotzen. Die Stadt selbst kenne ich, wie wahrscheinlich auch die meisten, die das hier lesen. Die Menschen hier sind oft blond und noch öfter schön, als wären sie aus einem H&M-Katalog herausgepurzelt. Irgendwie kommt mir hier immer das Wort „mondän“ in den Sinn, vielleicht, weil ein o und ein ä drin vorkommen, wie in vielen skandinavischen Wörtern.
Der Fotograf fluchte, die Kollegen hatten ihn vor Stockholm gewarnt: Immer wieder schmuggelten sich blonde Frauen in seine StadtansichtenBayerischer KolonialismusTier vs. MenschGeburtsort des schwedischen SlapsticksEr hielt es für gelungen, keine Frage - doch etwas in seinem Unterbewusstsein sagte dem schwedischen Nachwuchskünstler, dass er das Motiv schon einmal irgendwo gesehen hatte.Teenager-Sightseeing
Morgen geht es weiter Richtung Oslo, dann wird hier auch wieder mehr stehen. Nach einer kleinen Ruhepause werde ich mir auch darüber Gedanken machen, wie es nächste Woche weitergeht.
Falls ich geglaubt hatte, mit der Fähre nach Helsinki würde mein Weg in sicherere Gefilde führen, hatte ich mich getäuscht. Es sollte einer der Abende werden, für den das 37-Signals-Motto „Embrace constraints“ wie gemacht ist.
Doch zuerst einmal will ich von der Melancholie und der Euphorie berichten, die meine Reise mit der Fähre in mir auslösten. Die Melancholie setzte schon beim Einsteigen ein; Während meiner Auslandssemester in Finnland vor fast acht Jahren gehörten die Reisen mit dem Schiff zu den Party-Höhepunkten, besonders die Nachtroute Turku-Stockholm (die ich später nehme) war berühmt berüchtigt. Der Alkohol ist auf offener See zollfrei und damit vergleichsweise preiswert, dazu gibt es noch Restaurants, Tanzcafès und eine Borddisko. Alleine der Anblick der Finnen, die sich gleich nach der Ankunft an Bord an die Spielautomaten zum Zocken stellen, löste eine ganze Erinnerungskette aus, ebenso die melancholischen Tango-Bands, die eine traurige finnische Version von „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer“ zum Besten gibt.
Wer braucht da Las Vegas?Tango der Erleuchtung
Es waren diese Klänge, bei denen ich das erste Mal die finnische Melancholie so richtig begriff. Als ich an Deck stand und hinaus blickte, während Tallinn langsam hinter uns verschwand, war es mir, als hätte das Meer meine Jugend verschlungen, als wären die acht Jahre seit damals zwischendurch mit einer Welle weit hinaus gespült worden. Das Meer tröstet nicht, denn es kennt kein Alter, es ist immer im Jetzt, während wir Menschen langsam die Sandkörner durch unsere Lebensuhr rinnen sehen, ohne Macht, sie einfach umzudrehen.
Das ist auch Dein Zuhause
Doch das Meer mit seiner stetigen Gegenwärtigkeit gibt einem auch wie kein anderes Element das Gefühl, lebendig zu sein. So ist der zweite Teil der Fahrt nur mit kompletter Glücksseligkeit zu beschreiben. Die Sonne, wie sie durch die Regenwolken am Horizont bricht, der Wind im Gesicht und das erste Mal das Gefühl zu wissen, wie sich Weltreisende fühlen, deren nächstes Ziel nicht ihr Zuhause, sondern nur eine weitere Etappe ist – und die den Weg hinter sich sehen und schier nicht begreifen können, wie weit sie ihre Wanderschaft schon geführt hat. Kurz vor Helsinki strecke ich meine Arme nach in einem „I am the King of the World“-Gefühl nach oben, gebe einen Freudenjauchzer von mir und führe vor ein paar vereinzelten Passagieren einen kleinen Tanz im Wind auf.
Das Meer in mir
So hätte dieser Tag gerne enden können, doch es gehört wohl zu den Charakteristika dieser Reise, dass alles anders weitergeht, als man denkt. In diesem Fall eröffnet sich schon kurz nach der Ankunft ein Problem: Das Hostel, das ich angepeilt hatte (Couchsurfing-Gastgeber hatten sich keine gefunden) ist ausgebucht. „Die anderen Hostels sind auch voll“, gibt der Student an der Rezeption zu verstehen, womit für mich ab 21 Uhr eine kleine Odyssee beginnt: Ich klappere trotzdem noch einige Hostels ab, in der vagen Hoffnung, es sei noch ein Platz freigeworden. Die Finnen sind wie immer freundlich, können mir aber nicht helfen.
In Helsinki dämmert es (mir)
Ich würde inzwischen sogar ein bezahlbares Hotel nehmen, doch selbst hier gibt es keine freien Zimmer – und niemand kann mir erklären, warum (und ich ärgere mich, dass ich mir vorher keine Handy-Nummern von Bekannten besorgt habe, die nach ihrem Studium nach Helsinki zogen). Einmal lande ich sogar in einem Flüchtlingsheim, dort telefoniert man für mich andere Herbergen an, kann mir jedoch keine Bettstatt bieten.
Als ich aus einem Hotel komme, geht plötzlich ein beeindruckender Wolkenbruch nieder, der 20 Minuten dauert. Ich stehe unter dem Vordach, wo ich mit Jari ins Gespräch komme. Er kann mein Schlafplatzproblem nicht lösen, mir aber dafür die Abfahrtszeiten des Busses nach Turku sagen.
Der nette Jari und der böse Regen
Wenig später krempele ich meine Hose hoch und mache mich im Regenponcho auf den Weg zur Busstation, wo ich um 23 Uhr Richtung Turku aufbreche. Das ist natürlich ein Verstoß gegen meine Tramperregeln, aber ein verzeihbarer, immerhin habe ich ja nicht aufgrund fehlender Mitfahrgelegenheiten aufgegeben. Und überhaupt: Improvisation ist alles.
Die Idylle trügt
Zweieinhalb Stunden fahren wir durch die Vollmond-Nacht Richtung Westküste. Ich erinnere mich an eine Stelle bei Kerouacs „On The Road“, bei der er in einem Bus eine süße Mexikanerin kennenlernt, die ihn gleich für einige Tage mit nach Hause nimmt. Mir ist solch ein Glück nicht beschieden: In Turku stieg einzig eine Dame mittleren Alters mit einer Tasche voller Wein und Schnaps sowie einer großen Plastiktüte voller Bierflaschen ein. Auch in Turku irre ich zunächst durch die Stadt, weil die wenigen Hotels im Ort voll sind. Am Ende finde ich zum Glück eine kleine Absteige.
Den Mittwoch verbringe ich damit, in der Fußgängerzone Menschen zu beobachten und die Zeit bis zu meiner Fährenabfahrt um 21 Uhr totzuschlagen. Die Finnen wirken im Alltag beileibe nicht so melancholisch, wie wenn sie auf Booten traurige Musik hören. Ganz im Gegenteil. Der gesunde Pragmatismus, den meine Reise verlangt, ist auch ihnen nicht fremd. Ich werde ihn hoffentlich über das Meer mit hinübernehmen können. Ich bin sicher, dass Skandinavien noch einiges an Improvisation fordern wird.