
Heute ist ein besonderer Tag für mich, denn mit meinem Weg auf die schottischen Inseln erreiche ich den Umkehrpunkt meiner Reise; danach geht es wieder nach Süden, und schließlich zurück an den Anfang und das Ende der Straße.
In Ullapool, einem kleinen Fischerdörfchen, nehme ich die Fähre Richtung Isle of Lewis. Gestern Abend habe ich mit Jim einen Australier kennengelernt, der hier auf der Suche nach seinen Wurzeln aus dem 16. Jahrhundert ist. Jenseits der Pubs herrschte Stille in diesem kleinen Ort, einzig der Riss in meiner Jeans war zu hören, als ich von der Hafenmauer sprang (der Preis der schottischen Fettpommes?).
Auch die Reise mit der Fähre verläuft friedlich, das Meer ist still und erspart mir und meinem Magen größere Unannehmlichkeiten. Die Highlands, diese magische Landschaft, lassen wir hinter uns auf unserem wolkenbehangenen Weg weiter nach Westen. Während der Fahrt begleitet uns ein Stück lang eine Gruppe von Delfinen – der Kapitän verkündet es sogar durch den Bordlautsprecher, worauf ich wie alle Touristen schnell an Deck renne, mit der Grazie und Schnelligkeit ihrer Sprünge durch das Wasser aber restlos überfordert bin. Ich beschließe, die digitale Erinnerung zu vergessen und beobachte lieber die Tiere, die nach einigen Minuten in die Weiten des Atlantiks verschwinden.
Auf der Isle of Lewis angekommen, entscheide ich, nach Tarpert im Süden zu trampen, wo eine Fähre auf die Isle of Skye geht, mein Ziel für heute. Es ist ein ambitionierter Plan, immerhin sind es 40 Meilen und nur drei Stunden bis zur letzten Fähre. Ich mache mich auf den Weg zur richtigen Abzweigung und komme an zahlreichen Schulkindern vorbei, die gerade ihr Mittagessen (Fish & Chips) zu sich nehmen oder sich auf dem Schulhof prügeln. Die Isolation, hat mir gestern eine School Nurse erzählt, treibt viele Schotten zum Alkohol, Erwachsene akzeptieren oft auch bei Jugendlichen diesen Weg, um mit allem fertig zu werden. Wie ist es, hier aufzuwachsen, mindestens drei Stunden vom Festland und noch länger von einer größeren Stadt wie Glasgow entfernt, Wind und Regen als ständigen Begleiter?
Wenig sitze ich im Auto von Judith, einer Krankenschwester, die gerade auf dem Weg zu einem abgelegenen Strand ist, um dort zu wandern und ein Buch zu lesen. Sie beschließt, mich nach Tarpert zu fahren, und erzählt mir währenddessen ihre Geschichte: Sie stammt eigentlich aus dem Süden Englands, 14 Autostunden entfernt. Seit sechs Jahren lebt sie auf der Insel, wo sie in verschiedenen Krankenhäusern im Einsatz ist. Heute hat sie frei – das Krankenhaus im Nordwesten hatte nur zwei Patienten. „Du trampst hier nur durch?“, fragt sie erstaunt, „das ist wie, wenn ich in die Schweiz fliegen würde, um den Flughafen zu sehen.“
Tatsächlich schäme ich mich ein bisschen, diese Insel nur zu durchqueren. Es ist eine raue Vulkanlandschaft, felsige, mit Moss bewachsene Berge, die steil nach oben ragen. Ich versuche gar nicht erst, sie in Bildern festzuhalten. In Schottland sieht nur das Auge. Judith erzählt mir von den Wanderungen, die man hier unternehmen kann und auf denen man einen ganzen Tag lang niemandem begegnen, um am Ende an verlassenen Stränden voller Schönheit herauszukommen. Gleichzeitig ist die Insel voller christlicher Religiosität, alle möglichen Freikirchen predigen hier vom Untergang und der Hölle. „Katholiken existieren hier aber nicht“, sagt sie lachend, „Katholiken und Homosexuelle gibt es in der Welt der Menschen hier nicht“
Es ist wieder eines dieser intensiven Gespräche, die sich schnell um die grundsätzlichen Dinge des Lebens drehen. Wenig später, als die Fähre den Hafen verlässt und ich an Deck zurück in die wolkenumwobenen Berge schaue, erinnere ich mich an meine bisherigen Begegnungen dieser reise. Allen Menschen gemein ist, dass unsere Wege sich nur kurz kreuzen, bevor sich die Autotür hinter mir schließe und sie zurücklasse. Diese Reise kennt nur den Weg, nicht den Aufenthalt – und doch wird sie am Ende einen Sinn, ein Gemälde für mich ergeben. Ich steige die Treppen hinab ins Innere des Schiffes, wo die Menschen sitzen und gleichgültig ihrem Leben nachgehen. Sie nehmen mich nicht wahr, und für ein paar Momente fühle ich mich wie ein Geist, der geräuschlos und unsichtbar unter Deck wandelt, bevor er in einer anderen Welt verschwindet.

Ein Gedanke zu „Tag 18: Scheitelpunkt“