Saso zeigt Gastgeber-Qualitäten auch unter widrigsten Umständen. Neben mir muss er noch vier polnische Mädels aufnehmen, die sich vor zehn Tagen angekündigt, jedoch zwischendurch nicht mehr gemeldet hatten. Mir ist es fast ein bisschen peinlich, dass sich die Damen im Wohnzimmer stapeln müssen, während ich ein Extra-Zimmer bekomme.
Noch peinlicher ist mir aber, dass ich im Vergleich zu ihnen wirklich ein blutiger Anfänger bin: Sie bereisen bereits das zweite Mal in Folge Europa per Daumenexpress; vergangenes Jahr ging es nach Portugal, dieses Mal haben sie sich den Balkan ausgesucht. Ich hingegen werde mich später Richtung Ungarn aufmachen. Dort soll es ziemlich schwierig sein, sich zu verständigen. Vielleicht finde ich ja noch ein Wörterbuch, um mit grandiosen Phrasen wie “Mein Luftkissenboot ist voller Aale“ um mich zu werfen.
Kurz vor sechs bin ich hier an einem Parkplatz aus dem Auto gekullert, nun sitze ich in einem Straßencafè, zu meiner linken ein ziemlich gutes Sandwich. O2 hat hier keinen Partner, weshalb die Nachrichten von unterwegs erstmal etwas spärlicher fließen. Egal, denn ich war zwischendurch sicher, es nicht hierher zu schaffen. Doch von Anfang an.
Angekommen
Pünklich zu meiner Abreise hört es in München auf zu regnen. Als ich um kurz vor zehn an der Karl-Preis-Straße aussteige, fragt eine alte Dame, wo es nach Ramersdorf geht. Ich habe keine Ahnung. Und ich will Europa bereisen? Immerhin finde ich die Auffahrt zur A8, wo auch schon zehn Minuten später ein schwarzer BMW anhält und mich einlädt. Am Steuer sitzt Rajan, Betriebsleiter vom Paradiso (die Münchner kennen den Club). Er kommt gerade erst von der Arbeit, ist aber irgendwie fitter als ich. Nachdem wir ein bisschen über die Münchner Clubszene geplaudert haben, stehe ich auch schon an der Raststätte Holzkirchen. Beim Warten kommen zwei junge Mädchen auf mich zu“ Wir können Dich nicht mitnehmen, weil unser Bus schon voll ist“, sagen sie ein bisschen enttäuscht, „aber dafür kriegst Du einen Lolli.“
Stolz und beschenkt in Holzkirchen
Kein Familienurlaub am Gardasee für mich also, stattdessen fahre ich mit Stefan, der gerade auf dem Weg zur Arbeit auf dem Golfplatz ist. Er lüftet auch endlich das Geheimnis, was Golfplatzmitarbeiter im Winter machen: Büroarbeit und Urlaub nehmen. Im Urlaub seine Eltern, weshalb er für zehn Tage sturmfrei hat. Nachdem ich ihm das Versprechen abgenommen habe, nicht nur Fertigpizzas zu essen, schmeißt er mich kurz hinter Rosenheim an einem Rastplatz raus.
Nach einer viertelstündigen Wartezeit nimmt mich ein österreichisches Pärchen mit. Ihr Schicksal: Sie wollten zum Bungeespringen nach Innsbruck, doch der Wind war zu stark. Inzwischen scheint die Sonne, aus den Boxen dröhnen die Absoluten Beginner (wie lange hatte ich sie nicht mehr gehört) und wir schlängeln uns durch die Berge,denen das wahrscheinlich ziemlich egal ist. Einmal steigt rechts Rauch auf – ein Kirchenritual, bei dem ein Strohhaufen verbrannt wird. In wenigen Momenten liegt er schon hinter uns.
Ich erwache aus meiner meditativen Stimmung, als kurz nach Berchtesgaden die Autobahn Richtung Ljublajana nach rechts abbiegt, während wir geradeaus Richtung Salzburg fahren. Eine Mischung aus Pein und Panik überkommt mich. Wenige Minuten später steige ich in Salzburg an der Auffahrt aus, die mich wieder auf die richtige Autobahn zurückführen soll. Doch die Versprechung meines Fahrerpaares („Natürlich kommen hier Autos vorbei“) stellt sich als trügerisch heraus: Ich bin im Europacenter-Gewerbegebiet gelandet, wo an Wochenenden traditionell recht wenig los ist. Ich habe mich vertrampt, die bittere Feststellung lässt sich nicht mehr leugnen.
Stilleben am Sonntagmittag
Kurz nach 13 Uhr, ich stehe nun schon 40 Minuten, treffe ich eine Entscheidung: Hier kommt niemand mehr vorbei, und wenn, dann hält er im Kreisverkehr nicht an. Ich beschließe deshalb Plan B: Ich irre über den IKEA-Parkplatz, auf der Suche nach einer S-Bahn, die dort irgendwo fahren soll. Tatsächlich sitze ich um 13:17 Uhr in der S-Bahn zum Salzburger Hauptbahnhof. Ich breche meinen Tramperschwur, den ich niemals abgegeben hatte, und nehme dort ein Taxi. „Zur Autobahnauffahrt auf die A10“, sage ich gehetzt zum Fahrer – immerhin muss ich am Abend in Ljublajana sein, wo eine Couch auf mich wartet.
Um 14 Uhr stehe ich tatsächlich im Schatten des Watzmann vor der Auffahrt, wo ein Van mit einer eleganten Bremsung anhält und mich auflädt. Andreas nimmt mich ein paar Kilometer mit, er ist Tischler und klagt wie alle Handwerkskönner über die Unfähigkeit der heutigen Auszubildenden. Kurz vor der Mautstelle Sankt Michael setzt er mich auf einer Raststelle ab. Im Schatten der Alpen mache ich eine erste freiwillige Pause, wie das Bild zeigt.
Pause mit Panoramablick
Das Foto hat Irene von mir gemacht. Als sie mir mein Schlauphone zurückgibt, frage ich sie, ob sie und ihr Freund zufällig nach Slowenien müssen. Und tatsächlich: Boris und sie fahren in den Urlaub nach Kroatien. Den Stau vor dem Tauerntunnel überstehen wir durch laute Lektüre aus der Bunten, zudem finden wir auch noch einen Alpen-Rasthof, der sogar Thomas Bernhard unheimlich gewesen wäre.
Unheimliche Alpen (links im Bild: meine Fahrer-Engel)
Und nun sitze ich also hier, habe gerade noch einen Journalisten aus Norwegen kennengelernt und treffe gleich meine Couchsurf-Gelegenheit. Deshalb mehr an anderer Stelle.
Ich bin kein Schreibwunder wie Jack Kerouac, kein Trampbesessener wie Ludovic Hubler, kein konsequenter Naturfanatiker wie Christopher McCandless. Und doch freue ich mich, ab morgen mit meinen bescheidenen Mitteln der Geschichte des Trampens einen kleinen Absatz hinzuzufügen. Und persönlich bin ich so gespannt wie Ihr, was dieses öffentliche Kapitel meiner Lebensgeschichte alles bereit hält.
Ab morgen gilt es: Vier Wochen per Anhalter durch Europa. Nächster Stopp (hoffentlich): Ljubljana.
Auf den Spuren des Gouvernators? (via Jurveston, Flickr)
Ich bin tief enttäuscht: Wie ich lesen muss, has Arnold-Schwarzenegger-Stadion in Graz inzwischen einen anderen Namen. Dies ist natürlich nicht der einzige Grund, weshalb ich im Moment dazu tendiere, statt Österreich Slowenien anzutrampen und am Sonntag Richtung Ljubljana aufzubrechen. Da war ich nämlich noch nie und es soll schön sein. Wenn ich schon die Slowakei nur durchquere, könnte ich ja im anderen Slow-Land wenigstens anhalten. Oder?
Der Rucksacktest ist für den Tramper so etwas wie die Generalprobe für den Konzertmusiker. Wenn diese Regel, die ich natürlich gerade erfunden habe, zutrifft, würde ich optimistisch sagen: Verpatzte Generalproben bedeuten gute Auftritte.
Das ganze Malheur ist im Bild zu sehen: Links der proppevolle Rucksack, daneben all die Dinge, die ich nicht mitnehmen werden kann:
Golo Manns Propyläen Weltgeschichte (19. Jahrhundert)
Meine Lieblingslampe
West Wing, die komplette Serie als Box (hätte ich auf meiner Reise gerne mal wieder gesehen)
Werner, mein Lieblingsziegelstein
Nein, aber im Ernst: Es wird eng und rückenlastig, weshalb ich darüber nachgrüble, was überflüssig ist und rausfliegen könnte (das Netbook zum Beispiel, harhar), oder ob es andere Optionen gibt. Allerdings ist der Rucksack ein Familienstück, der schon Pilgerwege entlang gewandert ist (ohne mich, aber nicht alleine) und die Karibik bereist hat (mit mir), ihn nicht dabei zu haben, würde zu leichten Phantomschmerzen führen.
Andererseits sind Bandscheibenvorfälle unterwegs ebenso problematisch wie die Vorstellung, ohne Hosen auf Reisen zu gehen und in Unterwäsche an der Autobahn zu stehen. Vielleicht haben die reisekundigen Kommentatoren Tipps und eine Liste der notwendigen und überflüssigen Dinge für den Reiserucksack.
Geduld, bald geht es los (Foto via Wisconsin Historical Images, Flickr)
Wenn ich derzeit für jede Verwendung des Kollegen-Satzes „Was, Du bist immer noch hier?“ einen Zehner bekommen würde, wäre mein Auskommen während der Reise bereits gesichert, um nicht zu sagen: fürstlich.
Ja, ich bin immer noch hier. Organisatorisch sind die wichtigsten Dinge in trockenen Tüchern (kleiner Wetter-Scherz für Münchner), ich teste meine Regenjacken und habe herausgefunden, dass Stoffschuhe vielleicht doch die falsche Wahl sein könnten.Und natürlich habe ich das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Und natürlich gehen einige Dinge langsamer voran als andere, zum Beispiel das Suchen möglicher Blogger entlang meiner Route. Äh, ich sollte vielleicht präzisieren: Meine genaue Route von Autobahnkreuz zu Autobahnkurez steht auch noch nicht, wobei die Grundzüge inzwischen klar sind (Der Favorit Nordnordostließ in der Abstimmug nichts anbrennen).
Aber es ist ja noch ein wenig Zeit und solange mir niemand im Schlaf meine Daumen absägt oder Pappschilder mit Städte- oder Ländernamen drauf plötzlich verboten werden, bin ich guter Dinge. Inzwischen hat Bloggertramp auch eine Facebook-Seite mit sagenhaften sechs Mitgliedern. Das ist erst einmal ein Test, eigentlich spielt die Musik ja hier und nicht bei Herrn Zuckerberg. Aber meine Social-Media-Berater haben gesagt, dass man sowas heutzutage braucht.
Ein weiteres kleines Detail: Weil ich von Freunden aus dem Ausland recht viel Feedback bekommen habe, werde ich versuchen, zwischendurch auf jeden Fall ab und an englische Beiträge unterzubringen. Als Kronzeuge für die Verwendung des Englischen zitiere ich den Bukowski- und Burroughs-Übersetzer Carl Weissner: „Wegen des geringeren Wortschatzes wird man an jeder Art der Schwurbelei gehindert.“
"In nebliger Nacht fuhren wir durch Toledo" (via Kansasphoto, Flickr, CC)
Hier kommt Geständnis: Manchmal würde ich während meines Feierabends lieber andere Dinge machen als mir Europakarten angucken oder über schnell trocknende Unterwäsche nachzusinnen. Auf der anderen Seite ist mein Experiment gescheitert, Kapuzineräffchen zu dressieren, mich in Straßenfotos aus ganze Europa rein zu photoshoppen und unter meinem Namen authentisch anmutende Zitate aus Jack Kerouacs „On The Road“ zu twittern, während ich auf Barbados am Strand liege. Verdammte Evolution, kann das nicht schneller gehen?
Deshalb verbringe ich die Abende also mit wichtigen Planungen. Zum Beispiel einer Liste mit den 11 Dingen, die mir auf der Reise besser nicht passieren sollten:
1. Im Mondschein nimmt mich eine Frau mit Damenbart mit, die sich bei näherem Hinsehen als Werwolf entpuppt.
2. Nach drei Wochen stelle ich fest, dass ich meine Karte die ganze Zeit falsch herum gehalten habe und ich inzwischen im Kongo gelandet bin. Ich hatte mich schon gewundert, die Skandinavier waren mir anders in Erinnerung.
3. In meiner Abwesenheit wählen die Deutschen eine omnipräsente Internetpersönlichkeit mit „buntem Irokesenschnitt“ in einer Blitzwahl zum Bundeskanzler. Ich verliere daraufhin den Verstand und verbringe den Rest meiner Tage geistig verwirrt in einem Turm in Tübingen, wo ich unter dem Namen Scardanelli „eigentümlich formale Blogbeiträge“ (Zitat aus dem Wiki-Eintrag zu Bloggertramp) schreibe.
4. Auf dem Weg durch Kalabrien geben mir drei adrett in Nadelstreifen gekleidete Herren eine Mitfahrgelegenheit; ich revanchiere mich, indem ich beim Aussteigen versehentlich ihren Aktenkoffer mitnehme.
5. Auf einer Straße in England hält der Tourbus von Pete Doherty an. Ich steige ein und fahre davon in ein Leben voller Sex, Drogen und Rock’n Roll (okay, hier lasse ich mit mir reden, wenn es sein muss).
6. In Norwegen darf ich im VW-Bus einer Wikingerbande mitfahren, die ihr Geld als Buchhalter verdient. Wir erreichen das Ende der Welt, die Bremsen versagen und der Bus stürzt über die Kante der Erde ins Nichts (nicht möglich? Von wegen!)
7. Ich begegne auf einer Autobahnraststätte Elvis und vergesse ihn zu fragen, was er dazu sagt, dass seine Tochter einmal mit Michael Jackson verheiratet war.
8. Nach meiner Ankunft in Oslo schmeiße ich in der nächstbesten Bar eine Lokalrunde, worauf mein Gehalt für die nächsten 15 Jahre gepfändet wird.
9. Bei einem Spaziergang durch den Hafen von Tromsø verlaufe ich mich in einem Container, werde nach China verschifft, wo ich über Jahre hinweg iPads zusammen schrauben und die Währung unterbewertet halten muss.
10. Während meiner Reise sehe ich meine Wahlheimat plötzlich mit ganz anderen Augen, weshalb ich Rucksack und Tramperkleidung unterwegs gegen Lederhose und Gamsbart eintausche – zwei Accessoires, die für den Rest meines Lebens keinen Tag mehr ablegen werde (und nein, hier lasse ich nicht mit mir reden!).
11. Ich bin in einer Zeitschleife am Tag vor meiner Abreise gefangen und muss bis ans Ende der Zeit versuchen, hemmungslos übertriebene Zeitüberbrückungsbeiträge wie diese hier zu schreiben.
Allmählich kommt Ordnung in mein persönliches Logistik-Chaos, das Netbook ist inzwischen auch eingetütet (ein Lenovo Ideapad S12, wer es wissen möchte), am Arbeitsplatz nimmt langsam die Vorbereitung für die Zeit meiner Abwesenheit ein bisschen mehr Raum ein. Wenn ich ehrlich bin, muss ich doch zugeben, dass ich noch im Alltag so gefangen bin, dass ich erst in dem Moment, in dem es losgeht, die Zukunft zur Gegenwart machen werden kann.
Bislang hat mich eigentlich noch niemand nach meinen Zielen gefragt, was mich beruhigt. Ich könnte die Frage auch nur schwer beantworten. Vier ereignisreiche Wochen, ein bisschen Soul-Searching, das natürlich. Aber gibt es ein journalistisches Ziel? Welche Aufmerksamkeit wünsche ich mir? Eigentlich wäre es schon ganz nett, wenn hier ein paar Menschen vorbeischauen würden; andererseits ist das dann doch ein persönliches Projekt, es fühlt sich seltsam an, das ewige Gedächtnis des Netzes damit zu füttern. Gerade jetzt eben mit unreflektierten Reflexionen, zum Beispiel.
Ein geschätzter Kollege hat mir heute einen Hinweis auf „Autonauts of the Cosmoroute“ von Julio Cortázar und Carol Dunlop geschickt, einer vierwöchige Rastplatzexpedition im Makro-Modus aus dem Jahr 1982. Ich werde nicht mehr dazukommen, das Werk noch vor der Abfahrt zu lesen; das, was ich darüber im Netz gefunden habe, löst bereits tiefe Bewunderung vor der Haltung und Weltsicht aus. Auch wenn ich diese literarischen Höhen nicht erklimmen kann: Wenn es mir gelingen sollte, eine eigene Weltsicht über das Leben als Bloggertramp zu gewinnen und zu transportieren, ich könnte glücklicher nicht sein. Ich wünschte, morgen würde es losgehen, dann müsste ich mir keine Gedanken machen, sondern wäre einfach mittendrin.