Archiv der Kategorie: Freizeitvergnügen

Tag 15: Frischer Wind auf dem Sunset Boulevard

Ein Königreich für ein Paar Handschuhe

Heute habe ich den großen Sprung gemacht: Mit dem Flieger von Norwegen nach Schottland. Der Besuch von Aberdeen wirft allerdings ein paar Fragen auf. Zum Beispiel, ob das Stadtplanungsamt traditionell in der Hand von Trunkenbolden liegt. Die Neigung, über Jahrhunderte die reichlichen Granitvorkommen ein paar Kilometer vor den Toren der Stadt zum Bau von wirklich allem zu nutzen und Aberdeen damit je nach Wetterlage einen grauen bis schwarzen Anstrich zu geben, mag ebenso wirtschaftlich begründbar sein wie der gigantische Güterhafen, der fast den gesamten Meereszugang der Stadt einnimmt.

Architektur, im Pub ausgekaspert

Wie die Schnapsidee einer Pub-Zusammenkunft wirkt dagegen die Idee, zwischen Meer und dem Aberdeen Castle, der größten Sehenswürdigkeit, einen gigantischen Wohnklotz hinzustellen. Auch der bizarre Vergnügungspark hinter dem Stadtstrand, wo von Euro-Dancefloormusik unterlegt 18-jährige Mütter ihre Kinder in Burgerbuden schleppen, während die Väter an Spielautomaten kleben, gibt der Stadt einen ganz besonderen Charme.

Keine Fotomontage
Vergesst LA
Einsames Windrad

Ebenfalls auffällig: Die meisten Kirchen der Stadt sind zweckentfremdet, diese hier zum Beispiel zum Casino.

Lasset die Spieler zu mir kommen

Doch genug zur Stadtplanung, Aberdeen ist ja für mich nur Startpunkt für Schottland. Eigentlich wäre ich vom Flughafen schon beinahe nach Inverness getrampt, doch da mich eine halbe Stunde niemand mitnahm, machte mich auf den Weg in Stadt und zum Strand – wo ich als Kind im Schottland-Urlaub, wie ich mich erinnere, Federball gespielt habe. Eisiger Wind und das hier ganzjährig übliche Aprilwetter dürften in den nächsten Tagen zu meinen Begleitern werden – und in den Highlands dürfte ich kaum die Chance haben, mich in der Bowlingbahn des Sunset Boulevards aufzuwärmen.

Sandsturm und Flut

Die Kälte erklärt auch, weshalb hier die Pub-Kultur so ausgeprägt ist, die ich gleich mit meinem Couchsurfing-Gastgeber Aapo ausprobierte.

Schottische Sonntagabende

Aapo stammt eigentlich aus Finnland, studiert aber seit einem Jahr hier – und mag den Wind und die Kälte. „Mehr als 20 Grad sind mir zu viel“, sagt er, während wir auf dem Weg zu seiner Studentenbude sind und mir gerade der Hintern abfriert.

Der Mann, dem Wind Gemütlichkeit bedeutet

Die stillen Lichter der Stadt

Gibt es eine besser Art, seinen Samstagabend zu gestalten? Nachdem ich an einem ausverkauften Royksopp-Konzert  im Park vorbeigekommen bin, lande ich im Hafen Oslos.

Die Lichter der Stadt leuchten einige hundert Meter weiter, neben den Regentropfen ist nur das Tuckern eines Kutters zu hören, der gerade einfährt. Nicht weit von mir sitzen zwei junge Norweger mit Bart, sie haben ihre Angeln ausgeworfen – ich wüsste nicht, wie man einen solchen Abend besser verbringen könnte.

Das also ist es, das norwegische Hauptstadtleben, zumindest ein Teil davon. Viele Dinge gehen mir durch den Kopf, der Weg hierher, meine Reise an sich, doch ich halte inne. Es ist nicht einfach, auf Reisen in der Gegenwart anzukommen. Oft überlegt man sich, wie man ein Erlebnis seinen Freunden schildern wird, welche Bilder man nun aufnehmen sollte, was das alles bedeutet. Doch in diesem Moment gelingt es mir, mich auf die Stille zu konzentrieren, das Geräusch des Kutters, das langsam leiser wird. Nichts sonst, keine Gedanken.

Ich erwache, als zwei Menschen hinter mir vorbeilaufen. Eine ältere Dame hat sich bei einem Mann eingehackt und sagt „Jetzt wo ich die Schuhe eingelaufen habe, geht es“. „Ja, siehst Du, alles wird“, sagt der Mann lächelnd, und es hört sich nach Güte und Zärtlichkeit an. Ob ich in ein paar Jahrzehnten ebenfalls hier entlanglaufen werde, von dieser Samstagnacht in Oslo erzählend, als ich in die Stille des Meeres eintauchte, so nahe an den Lichtern der Stadt?

Lebensnah im Nachtleben

Das ist der wilde Osten (CC, Att-Share-Alike)

Der Blick aus meinem Hotelzimmer täuscht etwas. Suwalki ist nicht schön, nimmt man einmal den Stadtpark aus. Es ist eine langgezogene Durchfahrtsstadt, die das Schicksal so vieler Grenzorte teilt: Niemand will hier bleiben.

Mein Hotel, das „Hańcza“, besticht ebenfalls durch den Charme der Tristesse und erinnert mich frappierend an das Berliner Verlagshaus. Gebäude, Personal und Ambiente würde ein Zeitreisender spontan in die UdSSR der Achtziger einordnen, die dunklen Teppiche, verrauchten Hotelzimmer und schummrigen Gänge würden Gerd Ruge wahrscheinlich ganz melancholisch machen.

Willkommen zurück, Herr Gorbatschow

Die Erkundung des Nachtlebens zeigt, dass es hier eher traditionell zugeht – und eigentlich das Leben in der Provinz überall in Europa ähnlich ist. Ich folge unauffällig einer Gruppe junger Menschen in der Hoffnung, sie zeigten mir den Ort, den man hier gesehen haben muss. Es stellt sich heraus, dass sie einen 24-Stunden-Markt anpeilen, um dort Alkohol zu kaufen. Alkoholgeschäfte spielen ohnehin eine zentrale Rolle in der Abendgestaltung, in der „Galeria Alkoholi“ am Stadtpark geben sich die Menschen die Klinke in die Hand. Übrigens finde ich, dass eine „Galeria Alkoholi“ um einiges lebensnäher als beispielsweise eine „Galeria Kaufhof“ wirkt.

Ein beschränktes Sortiment hat auch Vorteile (CC, Att-Share-Alike)

So wandere ich ziellos durch die Straßen und kann unter anderem durch ein Fenster eine Tanzgesellschaft im besten Alter (Hochzeit? Silberhochzeit?) beobachten, die engagiert die Hüften schwingt, während ein Fotograf auf Rollerblades (!) zwischen ihnen umherfährt und Bilder macht.

Flanieren ausdrücklich erwünscht (CC, Att-Share-Alike)

Als ich schon glaube, die bunten Lichter im örtlichen Handyladen seien die einzigen Diskolichter der Stadt, finde ich doch noch einen Pub/Club mit Tanzfläche. Während ich an der Bar noch ein paar Zloti loswerden will, tanzen ein paar Meter weiter kurzhaarige Jungs (Männer mit Frisuren sind an diesem Abend eher selten) mit äußerst jungen Frauen zu bester Eurodance-Mucke.

Saturday Night Fever (CC, Att-Share-Alike)

Diese ist es dann auch, die heute morgen durch den Gang schallt und mich aus meinen Träumen reist. Ein passender Start in den Tag, der heute in etwa 380 Kilometer Entfernung in Riga enden soll. Allerdings werde ich heute wohl das erste Mal in den Regen kommen.

Tag 7: „Was dagegen, wenn wir kiffen?“

Als ich vorhin das Video aufgenommen habe, war ich noch euphorisiert (nein, nicht bekifft). Nun erfahre ich, dass Christoph Schliingensief gestorben ist. Das ist traurig und ein Schlag für die deutsche Kulturszene. Soviel Anarchismus ist nie wieder.

Vielleicht hätte Schlingensief am zweiten Teil meiner heutigen Etappe in die Nähe der litauischen Grenze seine Freude gehabt, wieder einmal wird ein typisches Klischee erfüllt. Einem Romanautoren würde das der Lektor mit der Begründung „zu abgegriffen und unrealistisch“ rausstreichen.

Der heutige Tag gliederte sich eigentlich in drei Teile. Bis Mittag war ich in Warschau mit Straßenbahn und Bus unterwegs, um auf die Schnellstraße Richtung Nordosten zu gelangen. Dabei fuhr ich einmal mit der Tram in die falsche Richtung, dann mit dem Bus zu weit. Am Ende stand ich um kurz vor 13 Uhr an der Straße.

Was an der Stadtgrenze von Warschau passiert, bleibt auch an der Stadtgrenze von Warschau (CC, Attr-Share-Alike)

Doch wieder einmal werde ich vom Glück geküsst: Mit Mariusz und Lukasz nehmen mich zwei angenehme Zeitgenossen nacheinander mit. Beide fahren übers Wochenende zu ihren Eltern, und beide helfen mir, wo sie können, zeigen mir auf der Karte Alternativnummern, Mariusz gibt mir sogar seine Telefonnummer, falls ich in Polen Ärger bekommen sollte.

Im Laufe der Fahrten werden wir jedoch immer stiller, da die Landschaft Richtung Masuren immer sehenswerter wird. Nicht unbedingt spektakulär wie in Österreich oder Slowenien, sogar ein bisschen chaotisch reihen sich Felder, Bäume, Waldstücke und Häuser aneinander. Zwischendurch wird die Walderfahrung ein bisschen bizarr, als am Straßenrand Menschen Waldfrüchte und Pfifferlinge, wenige Meter weiter Frauen vereinzelt ihren Körper anbieten.

Und trotzdem ist es eigenartig schön, friedvoll, fast ein fahrendes Gemälde: Die kunstvoll gebauten Storchennester auf Telefonmasten, das Gelb der abgeernteten Getreidefelder, die Schilder, die vor Kühen warnen, eine alte Bauersfrau, der ihre Tochter aus dem Auto hilft. Es ist vielleicht die friedvollste Fahrt bislang, ich bin nicht auf der Straße, um an ein Ziel zu gelangen, sondern einfach um zu sein. Lukasz, der Feuerwehrmann ist, hat den Soundtrack zum Dylan-Film „I am not there“ eingelegt, und ich bin da, hier im Jetzt.

Unscheinbare Weiten (CC, Attr-Share-Alike)

Er lässt mich an einer Haltebucht (die Straße ist weiterhin einspurig und wird es auch bleiben) raus, wo ein wettergegerbtes Bauernpaar Kartoffeln, Karotten und Pflaumen verkauft. Ich hole mir ein paar Pflaumen, gleichgültig wickelt die Frau den Kauf ab, während ihr Mann stoisch auf die Straße blickt und nur ab und zu eine Pflaume in den Mund schiebt und sie geräuschvoll zerkaut. Ich lege mich ein paar Minuten ins Gras am Straßenrand und blicke in den Himmel. Ohne Gedanken, den perfekten Samstag erlebend.

Er guckt, die Frau wartet hinter dem Wagen, um dann zu verkaufen (CC, Attr-Share-Alike)

Der pastorale Teil meiner Reise endet, als mich wenige später zwei Jungs mitnehmen. L. und S. Sind auf dem Weg nach Augustow, um zu feiern. L. ist etwas fleischiger, trägt seine kurzen Haare offen, während S. sie unter einer Baseballkappe versteckt, beide haben ihre Waden ziemlich volltätowiert. L. verwendet das polnische Schimpfwort „Kurva“ ungefähr in jedem achten Wort, S. in jedem Dritten. S. arbeitet in einer Druckfabrik, L. ist arbeitslos. „Die ganze Zeit frei“, sagt er anerkennend, ist aber wohl selber nicht ganz begeistert davon.

Ich sitze auf dem Rücksitz und wir plaudern, die Jungs haben mir zur Begrüßung gleich eine 0,5-Liter-Dose Red Bull in die Hand gedrückt.. L. übersetzt für S. und überbringt mir die frohe Botschaft: „Ist Dein glücklicher Tag heute“, sagt er grinsend, „wir haben beschlossen, nach Suwalki zu fahren.“ Und er ergänzt: „Hast Du was dagegen, wenn wir Marihuana rauchen?“

Boys will be boys (alle Rechte vorbehalten)

Die beiden holen eine kleine Pfeife heraus, mit der sie sich schnell ein paar Köpfe ziehen. Ich lehne dankend ab, könnte aber etwas Beruhigung gebrauchen: L.’s Überholmannöver lassen für Risiko-Liebhaber keine Wünsche offen, gefährlich nahe kommt uns so mancher LKW auf der Gegenfahrbahn. Plötzlich halten die beiden mit einer Vollbremsung an einer Tankstelle an. „Ich hol mir ne Sonnenbrille, hab meine vergessen“, sagt L., wird dann aber nicht fündig.

Die nächsten 80 Kilometer höre ich viele „Kurvas“, bekomme den Zustand des polnischen Boxsports erklärt und gucke aus dem Fenster, wo nun eher Gewerbegebiete dominieren. An die riskanten Überholmannöver habe ich mich inzwischen gewöhnt, und als wir um fünf nach Suwalki einfahren, dröhnt aus den Boxen in höllischer Lautstärke „Black or White“ von Michael Jackson, während wir drei mit einer Kippe in der Gosche bestens gelaunt mitwippen. Auch das ist das Tramperleben, Samstagabend in eine neue Stadt einfahren und keine Pläne und Sorgen zu haben. Am Ende tauschen wir Telefonnummern und die beiden verschwinden in eine Bar. Falls ich sie später wiedertreffen sollte, dürften sie mir einige Biere voraus haben.

Show me the way to the next Whiskey bar (all rights reserved)

Blüte der Chili-Schoten

In Bloom (CC, Att-Sh-Alike)

Es ist bereits dunkel, als ich bei meinem Couchsurfing-Gastgeber R. ankomme. Ich habe – wieder einmal – großes Glück: Er wohnt direkt im Zentrum, ich muss also nicht noch lange Wege mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen. Das imposante Haus, in dem er wohnt, hat die Größe eines kompletten Blocks, vor den Wohnungseingängen sind noch einmal extra abgeschlossene Gittertüren angebracht.

Als ich hereinkomme, gießt der Herr der Wohnung gerade seine Chili-Schoten, nebenbei läuft ein Laptop mit einer Serie. R. ist schlaksig, seine kurzen Hosen betonen die langen Beine noch zusätzlich, beim Laufen federt er so locker, dass es beinahe etwas ungelenkt wirkt. Ich habe nicht  viel Zeit für R., da ich mich mit zwei Bekannten in der Stadt treffe – was mir ein ziemlich schlechtes Couchsurfer-Gewissen macht, zumal R. im Gespräch seine ziemlich trockene Weltsicht mit einem unwiderstehlichen australischen Akzent darlegt. So behauptet er, die polnische Sprache nicht zu lernen, weil sie „in jeder Rangliste unter den drei schwierigsten Sprachen der Welt liegt“. Seine Arbeit nimmt er nicht allzu ernst: „Ich arbeite nicht, ich unterrichte hier ein bisschen Englisch“, sagt er.

R. ist weder glücklich, noch unglücklich, dass er hier lebt: Er zog nach Warschau, um eine hier lebende Freundin zu trösten, deren Freund sich von ihr getrennt hatte. „Ich reiste geradedurch Deutschland und hatte nichts zu tun“, sagt er. Als ich frage, ob die Freundin immer noch hier lebt, antwortet er trocken: „Ja, und sie hatte inzwischen vier oder fünf Freunde.“

Belagerung bei Nacht (CC, Attr-Share-Alike)

Leider habe ich keine Zeit für ein tieferes Gespräch, weil ich zum Präsidentenpalast muss, wo meine Bekannten auf mich warten. Der Vorplatz des prächtigen Gebäudes ist aufgrund der Kreuz-Kontroverse inzwischen abgesperrt, auf der einen Seite steht die Polizei, auf der anderen Demonstranten. Zwischendurch kommt es immer wieder zu lautstarken Debatten zwischen Passanten, Demonstranten und denen, die sich einfach dazugestellt haben, um zu diskutieren. Inzwischen, so erzählen mir meine Bekannten, versucht der Gründer des radikal-katholischen Senders Radio Maria die Proteste zu eskalieren. „Er hat eine Art Armee, die hier immer aufläuft. Eine Armee, die vor allem aus alten weißhaarigen Frauen besteht.“

Warschau bei Nacht (CC, Attr. Share-Alike)

Als ich ein paar Stunden später zurückkehre, gießt R. Gerade wieder seine Pflanzen. Er scheint ähnlich fixiert darauf wie auf den Wunsch, keine unnötige Energie zu verschwenden. Schon vorhin hatte er das Licht in der Küche (in der meine Couch steht) ausgemacht, obwohl nur kurz im Gang stand, um mit ihm zu plaudern. Als ich beim Zähneputzen kurz das Bad verlasse, um meditativ aus dem Fenster zu sehen, springt er aus seinem Zimmer und knipst hinter mir das Licht aus. Die Mischung aus trockenem Humor, australischem Akzent und energetischer Pedanterie hätte ich gerne noch näher kennengelernt. Leider ruft am Samstagmorgen bereits wieder die Straße.

Guten Morgen, Krakau

Hier ein paar Eindrücke aus Krakau, wer wissen möchte, wie ich hierher gekommen bin, sollte „Tag 5: Zum Tee zu Gast“ lesen.

Schatten in der Morgenluft
Tramper mit Schutzengeln (CC, Att-Share-Alike)
Trompeter ist beim Frühstück (CC, Attr.Sh-Alike)
Polens Kreuz mit dem Kreuz
Seelenfänger (CC, Att-Sh-Alike)

Auf meinem Rundgang habe ich dann auch noch Michal getroffen, einen Studenten aus Danzig. Er geht heute auf ein Festival in Krakau, bei dem u.a. Muse und die Chemical Brothers spielen. „This is even more  beautiful than Gdansk“, gibt er sich in gebrochenem Englisch entrüstet, „but I think I have seen all in three hours.“ Am Ende machen wir noch ein Bild zusammen. Wenn ich einmal eine Skateboard-Gang gründe, dann mit Michael zusammen.

Das hier ist nicht Kuba, Herr Hemingway

Am Plattensee – über die Reise hierher ist einen Beitrag weiter unten zu lesen.

Stille Schönheit am Morgen

In bester Thomas-Mann-Manier bin ich heute morgen zum Ufer geeilt, um den Sonnenaufgang und die Ruhe zu genießen. Letztere entschädigt und bietet das Kontrastprogramm zu dem, was sonst hier geboten ist.

Vielleicht hätte ich mich vorher über die Uferorte und den See an sich schlau machen sollen. Bislang hatte ich nur gewusst, dass das Balaton das einstige DDR-Ferienmekka war und einfach nur traumhaft schön sein soll. Ich hatte also ein bisschen ungarische Fischerdorfidylle mit gemäßigtem Tourismus erwartet – so ungefähr, wie in den Flippers-Liedern über italienische Inseln und kleine Bötchen, nur eben mit südöstlichem Einschlag.

Am Ende des Sommers (Foto by me, CC, Share-Alike)

Als ich gestern Abend auf der Landstraße hierher lief, um ein Gefühl für die Gegend zu bekommen, schien auch alles noch in mein Bild zu passen. Wenig Verkehr, Felder bis zum Horizont und im ersten Dorf gleich ein Wassermelonen-Verkäufer, der entspannt sein Buch liest.

Ein Melonenmann am Wegesrand (Foto by me, CC, Share-Alike)

Doch schon beim genaueren Hinsehen zeigen sich Brüche im friedvoll anmutenden Ambiente. Schätzungsweise jedes fünfte Haus steht in den Ortschaften, durch die ich gekommen bin, zum Verkauf. Dass die Schilder auch eine deutsche Übersetzung haben, gibt mir einmal mehr auf dieser Reise das unheimliche Gefühl, dass die Wirtschaftsmacht meines Heimatlandes viel mehr Bereiche umfasst, als ich bislang angenommen hatte.

Als ich an einer Einfahrt „Feriendomizil von Susi und Ralf“ lese und im Hof Autos mit Recklinghäuser Kennzeichen stehen sehe, ahne ich, dass dieser Ort hier nichts mit dem aus meiner Vorstellung gemeinsam hat.

Wer kann hier widerstehen? (Foto by me, CC, Share-Alike)

Je näher ich dem Ufer komme, desto klarer wird: Das hier ist vor allem eine deutsche Ferienkolonie. Deutsche Hotelnamen (ich selbst residiere im Hotel „Sonnenschein“, da es keine Jugendherbergen gibt), Familienurlauber aus dem Sauerland, „Gulaschhütten“ und „Folkloreabende“ und nach 22 Uhr ein Nachtleben, das von überlautem Ballermann-Dancefloor und billigem Bier geprägt ist.

So ein Tag, so wunderschön... (Foto by me, all rights reserved)

Um die Hüttchen und Pavillons geistern immer wieder unter weiten T-Shirts versteckte Massebäuche zwischen 20 und 35, deren Besitzer sich im Hörtest als Landsmänner entpuppen. Ich bestelle mir in einem der Läden einen Wodka und überlege, wie sich wohl Bruce Chatwin oder Ernest Hemingway an diesem Ort fühlen würden, zwischen Kicker, billigem Alkohol und der Leere, mit der ein solcher Abend verrinnt.

Hemingway hätte wohl zumindest den Alkohol gemocht.