Im Zentrum wirkt Belfast wie eine normale irische Hafenstadt, doch bewegt man sich Richtung Westen, steht es auf den Wänden geschrieben. 12 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen wirken die Bilder ein bisschen wie Folklore, doch der Konflikt ist längst noch nicht Vergangenheit, er schlummert nur irgendwo in und zwischen den Ziegelsteinhäusern.
Tag 19: Dämmerung

Zwölf Stunden auf den Straßen Schottlands bedeuten den Abschied von diesem Land. Fünf Tage habe ich hier verbracht, die mir auf beinahe träumerische Art und Weise wie ein ganzes Lebensjahr vorkommen – der umgekehrte Rip Van Winkle, sozusagen. Ein letzter Tag, der mit Portree in der Morgensonne begann und mit Stranraer im sich auflösendem Abendlicht endete.

Dazwischen verläuft mein Weg schon beinahe beunruhigend gut: Martin, ein schwäbischer Tourist, nimmt mich mit bis zum Eilean Donan, dem Highlanderschloss mit, wo mich Carlos und George aufgabeln und weiter Richtung Süden bringen.

Jane und Paul, ein ehemaliger Stahlarbeiter, sowie Craig, ein greiser ehemaliger Kirchenschul-Lehrer mit Hörgerät, bieten mir nicht nur bereitwillig eine Mitfahrgelegenheit, sondern erklären mir auch die Landschaft, die sich mal schottisch grün, mal beinahe alpin um uns gruppiert und mir im Sonnenlicht einen Abschied bereitet, den eigentlich nur Könige und Naturgötter verdient hätten.



Drei Schotten, die gerade aus den Begen kommen, fahren mich bis in einen Vorort von Glasgow, wo ich für einige Stationen den Zug nehme, um auf die richtige Straße nach Stanraer zu kommen. Als ich in Ayr aussteige, ist es bereits 18 Uhr – und eine Stunde später erreiche ich nach langem Fußmarsch erst wieder die Schnellstraße, 50 Meilen bis Stanraer und eine Stunde bis Sonnenuntergang.
Die untergehende Sonne ist kein gutes Zeichen für Anhalter, da Nachttrampen für Fahrer wie Tramper nicht die angenehmste Sache ist. Eine ähnliche Situation hatte ich bereits auf dem Weg nach Riga, hatte aber schnell eine Mitfahrgelegenheit gefunden. Dieses Mal scheint es anders: Die Autofahrer blicken abweisend, zudem stehe ich an einer Stelle, wo sie mir mit hoher Geschwindigkeit entgegenkommen. Doch gerade, als eine Wolke sich vor die Sonne schiebt und so nochmals alles dunkler wird, hält ein Kleinwagen. In ihm sitzt ein dicker, glatzköpfiger Mann mit Schnauzbart, den die meisten rein äußerlich wahrscheinlich in die Schublade „Metzger-Typ“ stecken würden. Als ich meinen Rucksack auf den Rücksitz schmeiße, sehe ich eine blaue Plane. Für einen kurzen Moment weicht die Freude dem Misstrauen und mir kommt der Gedanke, dass es sich um einen Serienkiller handeln könnte, der bereits alles bestens vorbereitet hat.
Natürlich ist alles ganz anders:Tom, so heißt mein Fahrer, ist nicht nur waschechter Schotte, sondern auch auf schottische Weise bodenständig. Er ist von seiner Frau geschieden, hat aber das Sorgerecht für die beiden Kinder, weshalb er gerade auf dem Weg zum Luxusgolfplatz in Turnberry ist, um dort Golfbälle zu suchen, zu waschen und wieder zu verkaufen. „Ich würde niemals Geld vom Staat annehmen, es geht auch so“, sagt er bestimmt. Der Staat, so argumentiert er, solle arbeitsscheuen Menschen (zu denen er seine Ex-Frau zählt) nicht noch Geld geben;Drogensüchtige bräuchten keine Therapie, sondern sollten einfach irgendwo zum Sterben gebracht werden.
Wer hinter all dem einen klassisch konservativen Geist vermutet, liegt falsch: David Cameron verachtet Tom genauso wie Maggie Thatcher („die Schotten hätten niemals eine Frau zur Premierministerin wählen dürfen“). Wir unterhalten uns über Fußball und Tom beklagt sich über die hohen Eintrittspreise: „25 Pfund kostet ein Ticket“, beschwert er sich, „dafür kann ich eine ganze Woche meine Familie ernähren.“ Er macht eine kurze Pause: „Oder einen Abend lang trinken.“ Auch heute Abend wird er nach der Arbeit ein paar Gläser kippen, seine Frau kümmert heute um die Söhne. Zum Abschied wünscht er mir viel Spaß in Irland: „Die Iren, die Schotten, die Waliser sind gut“, sagt er, „die Engländer…“ (er macht mit seinem Mund ein Pfurzgeräusch). „Ich mag die Queen, Gott segne sie, aber die Engländer…“
Tom lässt mich in Turnberry raus, das nicht nur einen Golfplatz hat, sondern auch Ferienwohnungen und Hotelzimmer für reiche Amerikaner und Engländer („500 Pfund für zwei Nächte, dafür könnte ein Schotte viel trinken“, hat er mir erklärt). Die Sonne ist nun blutrot gefärbt und verschwimmt im Nebel. Auf dem Meer liegt still eine Vulkaninsel, auf der ein einziges Haus stehen soll – das von Paul McCartney, der die Insel gekauft hat. Obwohl es noch 35 Meilen bis Stranraer sind, macht mir der Gedanke, hier irgendwo in den Dünen zu schlafen, keine Angst – höchstens die Lungenentzündung, die mir aufgrund des fehlenden Zeltes drohen würde.

Am Ende lande ich doch noch in Stranraer – ein schottisches Ehepaar nimmt mich ein paar Meilen mit und gibt mir sogar seine Telefonnummer, falls ich es nicht weiterschaffe; ein schottischer Trucker liest mich auf dem Weg zum Hafen auf. Während wir die steilen Küstenwege entlangfahren, legt sich die Nacht über das Land. Auch wenn ich erst am Freitagmorgen die Fähre nach Belfast besteige, sind dies die Momente des stillen Abschieds.
Tag 18: Scheitelpunkt

Heute ist ein besonderer Tag für mich, denn mit meinem Weg auf die schottischen Inseln erreiche ich den Umkehrpunkt meiner Reise; danach geht es wieder nach Süden, und schließlich zurück an den Anfang und das Ende der Straße.
In Ullapool, einem kleinen Fischerdörfchen, nehme ich die Fähre Richtung Isle of Lewis. Gestern Abend habe ich mit Jim einen Australier kennengelernt, der hier auf der Suche nach seinen Wurzeln aus dem 16. Jahrhundert ist. Jenseits der Pubs herrschte Stille in diesem kleinen Ort, einzig der Riss in meiner Jeans war zu hören, als ich von der Hafenmauer sprang (der Preis der schottischen Fettpommes?).
Auch die Reise mit der Fähre verläuft friedlich, das Meer ist still und erspart mir und meinem Magen größere Unannehmlichkeiten. Die Highlands, diese magische Landschaft, lassen wir hinter uns auf unserem wolkenbehangenen Weg weiter nach Westen. Während der Fahrt begleitet uns ein Stück lang eine Gruppe von Delfinen – der Kapitän verkündet es sogar durch den Bordlautsprecher, worauf ich wie alle Touristen schnell an Deck renne, mit der Grazie und Schnelligkeit ihrer Sprünge durch das Wasser aber restlos überfordert bin. Ich beschließe, die digitale Erinnerung zu vergessen und beobachte lieber die Tiere, die nach einigen Minuten in die Weiten des Atlantiks verschwinden.
Auf der Isle of Lewis angekommen, entscheide ich, nach Tarpert im Süden zu trampen, wo eine Fähre auf die Isle of Skye geht, mein Ziel für heute. Es ist ein ambitionierter Plan, immerhin sind es 40 Meilen und nur drei Stunden bis zur letzten Fähre. Ich mache mich auf den Weg zur richtigen Abzweigung und komme an zahlreichen Schulkindern vorbei, die gerade ihr Mittagessen (Fish & Chips) zu sich nehmen oder sich auf dem Schulhof prügeln. Die Isolation, hat mir gestern eine School Nurse erzählt, treibt viele Schotten zum Alkohol, Erwachsene akzeptieren oft auch bei Jugendlichen diesen Weg, um mit allem fertig zu werden. Wie ist es, hier aufzuwachsen, mindestens drei Stunden vom Festland und noch länger von einer größeren Stadt wie Glasgow entfernt, Wind und Regen als ständigen Begleiter?
Wenig sitze ich im Auto von Judith, einer Krankenschwester, die gerade auf dem Weg zu einem abgelegenen Strand ist, um dort zu wandern und ein Buch zu lesen. Sie beschließt, mich nach Tarpert zu fahren, und erzählt mir währenddessen ihre Geschichte: Sie stammt eigentlich aus dem Süden Englands, 14 Autostunden entfernt. Seit sechs Jahren lebt sie auf der Insel, wo sie in verschiedenen Krankenhäusern im Einsatz ist. Heute hat sie frei – das Krankenhaus im Nordwesten hatte nur zwei Patienten. „Du trampst hier nur durch?“, fragt sie erstaunt, „das ist wie, wenn ich in die Schweiz fliegen würde, um den Flughafen zu sehen.“
Tatsächlich schäme ich mich ein bisschen, diese Insel nur zu durchqueren. Es ist eine raue Vulkanlandschaft, felsige, mit Moss bewachsene Berge, die steil nach oben ragen. Ich versuche gar nicht erst, sie in Bildern festzuhalten. In Schottland sieht nur das Auge. Judith erzählt mir von den Wanderungen, die man hier unternehmen kann und auf denen man einen ganzen Tag lang niemandem begegnen, um am Ende an verlassenen Stränden voller Schönheit herauszukommen. Gleichzeitig ist die Insel voller christlicher Religiosität, alle möglichen Freikirchen predigen hier vom Untergang und der Hölle. „Katholiken existieren hier aber nicht“, sagt sie lachend, „Katholiken und Homosexuelle gibt es in der Welt der Menschen hier nicht“
Es ist wieder eines dieser intensiven Gespräche, die sich schnell um die grundsätzlichen Dinge des Lebens drehen. Wenig später, als die Fähre den Hafen verlässt und ich an Deck zurück in die wolkenumwobenen Berge schaue, erinnere ich mich an meine bisherigen Begegnungen dieser reise. Allen Menschen gemein ist, dass unsere Wege sich nur kurz kreuzen, bevor sich die Autotür hinter mir schließe und sie zurücklasse. Diese Reise kennt nur den Weg, nicht den Aufenthalt – und doch wird sie am Ende einen Sinn, ein Gemälde für mich ergeben. Ich steige die Treppen hinab ins Innere des Schiffes, wo die Menschen sitzen und gleichgültig ihrem Leben nachgehen. Sie nehmen mich nicht wahr, und für ein paar Momente fühle ich mich wie ein Geist, der geräuschlos und unsichtbar unter Deck wandelt, bevor er in einer anderen Welt verschwindet.

Tag 17: Sprachlos
Die Schotten müssen nicht viele Worte machen, und dafür schätze ich sie. Deshalb hier einfach nur die Bilder meiner heutigen Reise Cromarty Firth (Ostküste, im Norden von Inverness) nach Ullapool (Westküste). Wie immer werden Fotos dem schottischen Erlebnis nicht gerecht. Der Bericht zu meinem Tag mit Tree-Paul ist weiter unten zu lesen.







Tag 16: Paul
Es gibt Momente, die Menschen bis ans Ende ihrer Tage im Gedächtnis behalten werden. Einen solchen Moment erlebe ich, als ich etwa 18 Meilen vor Inverness gedankenverloren an der Straße stehe, als sich aus einer Einfahrt langsam ein VW Passat mit Bootsanhänger herausschiebt. Der Fahrer, ein älterer bärtiger Mann mit strähnigen langen Haaren, winkt mich heran. Er muss in meine Richtung, mehr weiß ich nicht, und so steige ich ein.
Die folgenden Stunden werde ich irgendwann einmal im Detail aufschreiben, doch ich werde scheitern, denn sehr viel davon können auch die bestgewähltesten Worte nur andeuten. Paul, so heißt der Fahrer, ist in den Augen einiger ein Naturmensch, in den Augen der meisten wahrscheinlich einfach ein Hippie. Er kann sanft wie ein Prediger sprechen, ohne dabei an Bestimmtheit zu verlieren. Dabei fuchtelt er mit den Armen, reißt ab und zu dreckige Witze und verbreitet bisweilen ein paar wunderliche Theorien über die Welt. Zwischendurch rülpst er immer mal wieder laut oder murmelt etwas vor sich hin. Auf der Kassette im Autoradio mischen sich Folk-Songs aus den Sechzigern mit schottischen Volksliedern. Paul mag keine Fragen, weil er beim Fahren nicht denken kann; doch er erzählt auch so gerne und eindrücklich. Er pflanzt Bäume in einem Radius von 50 Meilen rund um Inverness, vor allem Kirsch- und Haselnussbäume. „Ich verwebe Land und Wald“, beschreibt er seine Aufgabe. Wenn er unterwegs ist, schläft er auf einem Schafsfell auf dem Beifahrersitz, das Amaturenbrett ist voller Maskottchen, die er für mein Foto sorgsam drapiert, während wir am Straßenrand stehen und den Verkehr vorbeiziehen lassen.
Als ein Laster mit abgeholzten Bäumen vor uns auftaucht, hält er mich an, ihn zu fotografieren. „Ich pflanze Bäume und da vorne fährt ein Leichenwagen für sie“, sagt er nachdenklich, „das ist der Kreislauf des Lebens.“ Drei Wochen ist Paul inzwischen ohne Unterbrechung unterwegs, heute muss er noch ein paar Kirschen ableeren und Kerne sammeln. Bereitwillig komme ich mit, ihm zu helfen. Wir passieren die mächtige Brücke von Inverness, während das Meer unter uns machtvoll die Sonne spiegelt. „Das ist mein Land“, wendet sich Paul mir zu, „und es gehört jetzt alles Dir.“
Wir enden in Black Isle, einem Ortsverbund etwas oberhalb von Inverness. Paul kennt die Gegend und die Gegend kennt Paul, ein paar Kinder haben bereits Kirschen für ihn gesammelt, er gibt ihnen ein bisschen Geld dafür. In der Nachmittagssonne sammeln wir die Kirschen, plaudern und schweigen, Verkehr und Meer rauschen irgendwo dort unten, wo die Ernte längst vorbei ist.
Als wir eine Pause machen, deutet Paul in die Weite des Landes. „Hier gibt es alles, was wir brauchen. Meer, Regen, Vegetation, Berge“, sagt er, „wir haben Glück.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt er nachdenklich: „Hier lebten einmal fröhliche Menschen, die im Einklang mit allem waren. Doch dann wurde alles zerstört, erst kamen die Römer, dann die Wikinger. Die Kriege hörten nicht mehr auf.“ Er sieht mich bestimmt an und sagt: „Auch wenn der Schmerz der Erinnerung nur kurz ist, kann er sehr weh tun.“
Wenig später sind wir auf dem Weg zu ihm nach Hause, er hat mich eingeladen. Ich erfahre, dass Paul früher Pilot bei der Airforce war und vor drei Jahren eine Herzoperation hatte; seinen sehnigen Körper schont er dennoch nicht. Während wir von den Hügeln ins flache Hinterland an der Küste hinabfahren, bringe ich ihm deutsche Wörter wie „Sehnsucht“ oder „Stubenhocker“ bei, mit denen er seine deutschen Freunde in einer Hippiekolonie 20 Meilen entfernt beeindrucken und ärgern will, wie er lachend erklärt. Wir sprechen über die schottische Geschichte, über die Paul von A bis Z Bescheid weiß, und den Ursprung der Sprachen. „Once, ’normal‘ and ’natural‘ had the same meaning, were almost one word“, sagt er, „now, it has become completely the opposite.“ Das „Normale“ ist für ihn ein Werkzeug, dass er manchmal aus seiner Tasche holt, zum Beispiel wenn er die Früchte seiner Arbeit verkauft, um Geld zu verdienen.
Über Schafsweiden landen wir schließlich bei ihm zuhause, einem abgelegenes Haus am Cromarty Firth in der Nähe des Meeres und dem Schatten der Berge am anderen Ufer, inklusive Selbstversorger-Garten. Drinnen heizt der Holzofen, doch Paul und sein einzig anwesender Mitbewohner, ein meditierender amerikanischer Highlandgeschichte-Student mit Vollbart, schlafen lieber in ihren Wohnwägen. So bleibt mir und den Katzen das komplette Haus. Spätabends, während ich am Küchentisch sitze und in Walt Whitmans „Leaves of Grasss“ lese, das eine Couchsurferin bei meiner vorherigen Station vergessen hatte, wuselt Paul umher, kocht, murmelt, singt Lieder und spielt Gitarre dazu und schenkt mir von seinem Fruchtbier ein. Wir haben Glück.
Tag 15: Frischer Wind auf dem Sunset Boulevard

Heute habe ich den großen Sprung gemacht: Mit dem Flieger von Norwegen nach Schottland. Der Besuch von Aberdeen wirft allerdings ein paar Fragen auf. Zum Beispiel, ob das Stadtplanungsamt traditionell in der Hand von Trunkenbolden liegt. Die Neigung, über Jahrhunderte die reichlichen Granitvorkommen ein paar Kilometer vor den Toren der Stadt zum Bau von wirklich allem zu nutzen und Aberdeen damit je nach Wetterlage einen grauen bis schwarzen Anstrich zu geben, mag ebenso wirtschaftlich begründbar sein wie der gigantische Güterhafen, der fast den gesamten Meereszugang der Stadt einnimmt.

Wie die Schnapsidee einer Pub-Zusammenkunft wirkt dagegen die Idee, zwischen Meer und dem Aberdeen Castle, der größten Sehenswürdigkeit, einen gigantischen Wohnklotz hinzustellen. Auch der bizarre Vergnügungspark hinter dem Stadtstrand, wo von Euro-Dancefloormusik unterlegt 18-jährige Mütter ihre Kinder in Burgerbuden schleppen, während die Väter an Spielautomaten kleben, gibt der Stadt einen ganz besonderen Charme.



Ebenfalls auffällig: Die meisten Kirchen der Stadt sind zweckentfremdet, diese hier zum Beispiel zum Casino.

Doch genug zur Stadtplanung, Aberdeen ist ja für mich nur Startpunkt für Schottland. Eigentlich wäre ich vom Flughafen schon beinahe nach Inverness getrampt, doch da mich eine halbe Stunde niemand mitnahm, machte mich auf den Weg in Stadt und zum Strand – wo ich als Kind im Schottland-Urlaub, wie ich mich erinnere, Federball gespielt habe. Eisiger Wind und das hier ganzjährig übliche Aprilwetter dürften in den nächsten Tagen zu meinen Begleitern werden – und in den Highlands dürfte ich kaum die Chance haben, mich in der Bowlingbahn des Sunset Boulevards aufzuwärmen.

Die Kälte erklärt auch, weshalb hier die Pub-Kultur so ausgeprägt ist, die ich gleich mit meinem Couchsurfing-Gastgeber Aapo ausprobierte.

Aapo stammt eigentlich aus Finnland, studiert aber seit einem Jahr hier – und mag den Wind und die Kälte. „Mehr als 20 Grad sind mir zu viel“, sagt er, während wir auf dem Weg zu seiner Studentenbude sind und mir gerade der Hintern abfriert.

Die stillen Lichter der Stadt
Gibt es eine besser Art, seinen Samstagabend zu gestalten? Nachdem ich an einem ausverkauften Royksopp-Konzert im Park vorbeigekommen bin, lande ich im Hafen Oslos.
Die Lichter der Stadt leuchten einige hundert Meter weiter, neben den Regentropfen ist nur das Tuckern eines Kutters zu hören, der gerade einfährt. Nicht weit von mir sitzen zwei junge Norweger mit Bart, sie haben ihre Angeln ausgeworfen – ich wüsste nicht, wie man einen solchen Abend besser verbringen könnte.
Das also ist es, das norwegische Hauptstadtleben, zumindest ein Teil davon. Viele Dinge gehen mir durch den Kopf, der Weg hierher, meine Reise an sich, doch ich halte inne. Es ist nicht einfach, auf Reisen in der Gegenwart anzukommen. Oft überlegt man sich, wie man ein Erlebnis seinen Freunden schildern wird, welche Bilder man nun aufnehmen sollte, was das alles bedeutet. Doch in diesem Moment gelingt es mir, mich auf die Stille zu konzentrieren, das Geräusch des Kutters, das langsam leiser wird. Nichts sonst, keine Gedanken.
Ich erwache, als zwei Menschen hinter mir vorbeilaufen. Eine ältere Dame hat sich bei einem Mann eingehackt und sagt „Jetzt wo ich die Schuhe eingelaufen habe, geht es“. „Ja, siehst Du, alles wird“, sagt der Mann lächelnd, und es hört sich nach Güte und Zärtlichkeit an. Ob ich in ein paar Jahrzehnten ebenfalls hier entlanglaufen werde, von dieser Samstagnacht in Oslo erzählend, als ich in die Stille des Meeres eintauchte, so nahe an den Lichtern der Stadt?
Tag 14: Nervenzusammenbrüche und Naturwunder

Den größten Lacher des Tages erntete ich heute von Simon, dem Münchner mit dem Kajak, bei der Präsentation meines Regen-Outfits. Ich gebe zu, vielleicht sind die Flaggen (während des Trampens hinter meinem Kopf hervorragend) etwas übertrieben – sie sollen angeblich dabei helfen, mitgenommen zu werden – dennoch fühlte ich mich perfekt vorbereitet.
Simons Lacher blieb erst einmal für lange Zeit der einzige. Fiese Regenschauer von oben, mich ignorierende Skandinavier von vorne – von 10 bis 14 Uhr stand ich entweder sehnsüchtig den Daumen haltend an der Straße, lief die Autobahn auf der Suche nach einem besseren Platz entlang oder biss vor Wut in meinen Regen-Poncho. Auch wenn es nach 40 Minuten zu regnen aufhörte, trieb mir die Machtlosigkeit die Wuttränen in die Augen – zum ersten Mal wäre ich lieber zuhause als unterwegs gewesen. Nach einigen lauten Flüchen überlegte ich schon, mich zu Fuß auf den Weg in die nächste Stadt zu machen und dort den Bus nach Oslo zu nehmen.

Doch ich hatte Glück: Auf einem Parkplatz im Naturschutzgebiet einige Kilometer hinter Karlstad hielt ein deutsches Auto, dessen älterer Fahrer sich trotz voller Ladung breitschlagen ließ, mich vor dem Einsetzen des nächsten Schauers bis zu dem Punkt mitzunehmen, wo sich die Autobahn in Richtung Göteborg oder Oslo abzweigt. Roderich heißt der Engel, kommt aus dem Siegerland und ist Skandinavien-Liebhaber. Vor 40 Jahren arbeitete er das erste Mal in Finnland auf einem Bauernhof und kehrte seitdem immer wieder in die Gegend zurück. Doch der Bauernhof, auf dem er noch viele Jahre später häufig zu Gast war, ist inzwischen abgebrannt: Angezündet vom Besitzer, der sich noch am gleichen Abend erschoss. „Es gibt keine Stunde, in der ich nicht an Finnland denke“, sagt mir Roderich zum Abschied. Die Melancholie in seinen Augen würde einem echten Finnen alle Ehre machen.

Ich gehe ein paar hundert Meter weiter, voller Hoffnung, nun doch noch den Weg nach Oslo zu meistern. Passend dazu wird die Landschaft bereits felsiger, die Regenfälle der letzten Stunden finden nun in kleinen Felswasserfällen den Weg aus den Wäldern. Und wirklich habe ich unglaubliches Glück: Johan aus Karlstad ist gerade auf dem Weg zur Arbeit auf einer norwegischen Offshore-Bohrinsel. Er nimmt mich fast bis nach Oslo mit und erzählt mir viel über Schweden und Norwegen, zum Beispiel, dass Autos in Norwegen für Fußgänger immer stoppen müssen, sobald diese ihren Fuß auf die Straße setzen.



Während der kurzweiligen Fahrt kommen wir an Landschaften vorbei, die ich weder mit meiner kleinen Handykamera adäquat festhalten, noch beschreiben kann. Seen, Weiden, grüne Wälder und ein Wetter, dass sich minütlich zu ändern scheint, sobald sich die hohen Wolkentürme dunkel färben. Es ist nur ein kleiner Eindruck, den ich von Norwegen erhalte, doch es ist ein mächtiger. Da kann Oslo, die Stadt an der Nordsee, fast nicht mithalten. Was sind schon menschliche Bauwerke im Vergleich zu den Wundern, die Wind, Sonne und Regen in die Landschaften über Jahrmillionen in die Landschaften zeichnen.

Morgen mache ich mich auf den Weg in eine weitere Wunderlandschaft: Um 11 Uhr fliege ich nach Schottland.
Halbzeit, aber keine Pause

Dieses Symbolbild hier zeigt nicht meine, sondern die Schuhe von Simon aus München, mit dem ich ein Jugendherbergszimmer teile. Es ist ein Akt der Gnade, dass er sie nicht im Zimmer stehen lässt, immerhin haben sie zehn Tage Kajaktour hinter sich. Mit meinem bayerischen Gefährten habe ich gestern auch das Nachtleben erkundet, Clubs mit Holzböden, hübsche Menschen, unbezahlbares Bier. So unbezahlbar, dass Simon nun überlegt, die nächsten Tag zu campen, bis er wieder am Monatsanfang Geld auf dem Konto hat. Leider regnet es allerdings, was auch meine Reise wenig angenehm machen könnte.

Heute ist Bergfest, da die Hälfte meiner Reise um ist, und tatsächlich könnte es ein steiler Weg werden: Meine heutige Tour soll mich nach Oslo führen – von dort geht es dann Sonntag mit dem Flugzeug weiter, wie von Euch gewünscht. Ich habe für morgen noch einen relativ günstigen Flug nach Aberdeen in Schottland gefunden, von wo ich erst nach Norden, dann nach Westen und per Fähre nach Nordirland/Irland aufbrechen möchte. Die genaue Route überlege ich mir heute Abend, jetzt aber geht es erst einmal wieder raus in den Regen auf die Straße.
Tag 13: Von wegen schweigende Schweden

Vielleicht habe ich zu viele Horror-Filme gesehen, aber irgendwie erinnert mich mein Hostel an das Hotel aus „The Shining“. Es ist das Ende der Sommersaison hier in Schweden und dementsprechend verlassen ist das Haus hier, eine ehemalige Kaserne, die durchaus fein eingerichtet ist. Wenn ich nun gefragt werde, ob ich den Hausmeisterjob für den Winter übernehmen soll, seile ich mich aus dem Fenster ab.
Natürlich trügt der Eindruck, denn wenige hundert Meter von hier geht die Autobahn, etwas weiter über den Fluss liegt Karlstad, eine Stadt mit 85.000 Einwohnern im Westen Schwedens, nur 220 Kilometer von Oslo entfernt. Weil sie damit ein wichtiger Handelsknotenpunkt ist, bietet die Stadtarchitektur neben der üblichen skandinavischen Gruppierung (lange Fußgängerzone mit Stichstraßen zur Hauptstraße, großer Marktplatz mit Busanbindung) durchaus prachtvolle Gebäude.

Der Weg hierher hat mir einmal mehr gezeigt, weshalb ich diese Art zu reisen so liebe – auch wenn es inzwischen eine Routine ist, sich an den Rand der Autobahn zu stellen. Heute früh hatte sich an der Rezeption noch folgender Dialog abgespielt:
Ich: „Is it difficult to hitchhike in Sweden?“
Rezeptionistin: „Well, nobody does it here, so they might just think you’re a lunatic.“
Doch alle Befürchtungen entpuppten sich zumindest heute als falsch: Nie musste ich länger als zehn Minuten warten, dazu machte ich auch noch Bekanntschaft mit sehr angenehmen Menschen.Die blonde Helen, Anfang 50, nahm mich 30 Kilometer mit und schwärmte mir auf ihre eigene, ganz schüchterne Art vom Norden Schwedens und den Menschen dort vor. Kurz darauf saß ich bei Naseem im Auto, eine Beraterin, deren eigentliche Passion jedoch das Schreiben ist. Gerade hat sie einen Produzenten gefunden, der ihr bislang erfolgloses Buch verfilmen möchte. Diskussionen über den Plot (eine Frau zieht vom Land nach Stockholm und erlebt dort, wie sich ihre Persönlichkeit verändert) folgten Debatten über Schweden an sich, den Sinn des Lebens und berufliche Auszeiten (Reihenfolge beliebig).
Naseem ist eine sehr gut gelaunte Frau (mit indischen Wurzeln, wer sich über den Namen wundert), die viel und gerne lacht – und sich dabei so tief ins Gespräch vertieft, dass sie sogar ihre Ausfahrt in Örebro verpasst. Als sie ihr Auto wieder in die richtige Richtung navigiert, übersieht sie einen Kleinwagen auf der Vorfahrtstraße, der uns beinahe in die Seite rauscht und laut hupt – doch Naseem und ich lachen einfach.
Erik, ein älterer Herr, der mir ganz höflich bei der Verabschiedung seinen kompletten Namen nennt, fährt mich einige Kilometer weiter, worauf ich im Wald stehe. Ich bereue es fast ein bisschen, die Wälder nur als Umrahmung von Straßen wahrzunehmen, aber selbst das genügt, um mir ein Gefühl der Freiheit und Erholung zu geben – auch wenn es bei 13 Grad und Wind aus Norden dann doch schon recht herbstlich ist.

Bis kurz vor Karlstad nehmen mich zwei Exil-Iraker mit. Einer von ihnen, Sardut (so die Lautschreibweise), kann sehr gut Englisch. Witzigerweise ist er Sunnite, während der Fahrer Schiite ist. „Warum klappt das hier im Auto und in Eurem Land nicht?“, frage ich, doch Sardut winkt ab. Er hat in Bagdad im sunnitischen Dreieck gelebt und für die US-Armee als Übersetzer gearbeitet. „Drei Mal wäre ich fast erschossen worden, drei Mal von US-Soldaten“, klagt er – ist aber eigentlich ein prächtig gelaunter Typ, der in seine Erzählungen immer mal wieder einen Witz einstreut, oft auf Kosten Amerikas.
Frieden, so ist er sich sicher, wird es auf absehbare Zeit nicht geben – weshalb er mit seiner Familie vor fast zwei Jahren nach Europa ausgewandert ist. „Keine Aschenbecher in Volvos, was ist das für ein komisches Land“, scherzt er, während er an seiner Kippe zieht. Vom Irak in der Zeit nach Saddam berichtet er voller Zynismus und mit großer Klarsicht, sobald al-Maliki nicht mehr an der Macht ist, wird der Schiitenführer Muqtada as-Sadr zum wichtigen Mann im Hintergrund.
Dazu erzählt er noch äußerst einprägsame Anekdoten. „In Bagdad herrschte ab 23 Uhr immer eine Ausgangssperre, im Fernsehen und Radio gab es Durchsagen, dass jeder, der zu diesem Zeitpunkt noch auf der Straße ist, ohne Vorwarnung erschossen werde. An einem Abend kam ein Iraker um fünf vor elf mit seinem Auto an den Kontrollpunkt. Ein irakischer Soldat nahm seine Waffe, und erschoss ihn ohne Vorwarnung. Der US-Soldat, der mit ihm am Checkpoint stand, schrie ihn entsetzt an: ‚Warum hast Du das getan, wir haben doch noch nicht elf!‘. Daraufhin entgegnete der irakische Soldat: ‚Ich weiß wo er wohnt, das ist drei Kilometer von hier – er hätte das niemals mehr rechtzeitig dahin geschafft.‘ “ Sardut lacht kräftig, als er die Geschichte/urbane Legende erzählt. In den Irak will er nie mehr zurückkehren.
