Tag 16: Paul

Es gibt Momente, die Menschen bis ans Ende ihrer Tage im Gedächtnis behalten werden. Einen solchen Moment erlebe ich, als ich etwa 18 Meilen vor Inverness gedankenverloren an der Straße stehe, als sich aus einer Einfahrt langsam ein VW Passat mit Bootsanhänger herausschiebt. Der Fahrer, ein älterer bärtiger Mann mit strähnigen langen Haaren, winkt mich heran. Er muss in meine Richtung, mehr weiß ich nicht, und so steige ich ein.

Die folgenden Stunden werde ich irgendwann einmal im Detail aufschreiben, doch ich werde scheitern, denn sehr viel davon können auch die bestgewähltesten Worte nur andeuten. Paul, so heißt der Fahrer, ist in den Augen einiger ein Naturmensch, in den Augen der meisten wahrscheinlich einfach ein Hippie. Er kann sanft wie ein Prediger sprechen, ohne dabei an Bestimmtheit zu verlieren. Dabei fuchtelt er mit den Armen, reißt ab und zu dreckige Witze und verbreitet bisweilen ein paar wunderliche Theorien über die Welt. Zwischendurch rülpst er immer mal wieder laut oder murmelt etwas  vor sich hin. Auf der Kassette im Autoradio mischen sich Folk-Songs aus den Sechzigern mit schottischen Volksliedern. Paul mag keine Fragen, weil er beim Fahren nicht denken kann; doch er erzählt auch so gerne und eindrücklich. Er pflanzt Bäume in einem Radius von 50 Meilen rund um Inverness, vor allem Kirsch- und Haselnussbäume. „Ich verwebe Land und Wald“, beschreibt er seine Aufgabe. Wenn er unterwegs ist, schläft er auf einem Schafsfell auf dem Beifahrersitz, das Amaturenbrett ist voller Maskottchen, die er für mein Foto sorgsam drapiert, während wir am Straßenrand stehen und den Verkehr vorbeiziehen lassen.

Als ein Laster mit abgeholzten Bäumen vor uns auftaucht, hält er mich an, ihn zu fotografieren. „Ich pflanze Bäume und da vorne fährt ein Leichenwagen für sie“, sagt er nachdenklich, „das ist der Kreislauf des Lebens.“ Drei Wochen ist Paul inzwischen ohne Unterbrechung unterwegs, heute muss er noch ein paar Kirschen ableeren und Kerne sammeln. Bereitwillig komme ich mit, ihm zu helfen. Wir passieren die mächtige Brücke von Inverness, während das Meer unter uns machtvoll die Sonne spiegelt. „Das ist mein Land“, wendet sich Paul mir zu, „und es gehört jetzt alles Dir.“

Wir enden in Black Isle, einem Ortsverbund etwas oberhalb von Inverness. Paul kennt die Gegend und die Gegend kennt Paul, ein paar Kinder haben bereits Kirschen für ihn gesammelt, er gibt ihnen ein bisschen Geld dafür. In der Nachmittagssonne sammeln wir die Kirschen, plaudern und schweigen, Verkehr und Meer rauschen irgendwo dort unten, wo die Ernte längst vorbei ist.

Als wir eine Pause machen, deutet Paul in die Weite des Landes. „Hier gibt es alles, was wir brauchen. Meer, Regen, Vegetation, Berge“, sagt er, „wir haben Glück.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt er nachdenklich: „Hier lebten einmal fröhliche Menschen, die im Einklang mit allem waren. Doch dann wurde alles zerstört, erst kamen die Römer, dann die Wikinger. Die Kriege hörten nicht mehr auf.“ Er sieht mich bestimmt an und sagt: „Auch wenn der Schmerz der Erinnerung nur kurz ist, kann er sehr weh tun.“

Wenig später sind wir auf dem Weg zu ihm nach Hause, er hat mich eingeladen. Ich erfahre, dass Paul früher Pilot bei der Airforce war und vor drei Jahren eine Herzoperation hatte; seinen sehnigen Körper schont er dennoch nicht. Während wir von den Hügeln ins flache Hinterland an der Küste hinabfahren, bringe ich ihm deutsche Wörter wie „Sehnsucht“ oder „Stubenhocker“ bei, mit denen er seine deutschen Freunde in einer Hippiekolonie 20 Meilen entfernt beeindrucken und ärgern will, wie er lachend erklärt. Wir sprechen über die schottische Geschichte, über die Paul von A bis Z Bescheid weiß, und den Ursprung der Sprachen. „Once, ’normal‘ and ’natural‘ had the same meaning, were almost one word“, sagt er, „now, it has become completely the opposite.“ Das „Normale“ ist für ihn ein Werkzeug, dass er manchmal aus seiner Tasche holt, zum Beispiel wenn er die Früchte seiner Arbeit verkauft, um Geld zu verdienen.

Über Schafsweiden landen wir schließlich bei ihm zuhause, einem abgelegenes Haus am Cromarty Firth in der Nähe des Meeres und dem Schatten der Berge am anderen Ufer, inklusive Selbstversorger-Garten. Drinnen heizt der Holzofen, doch Paul und sein einzig anwesender Mitbewohner, ein meditierender amerikanischer Highlandgeschichte-Student mit Vollbart, schlafen lieber in ihren Wohnwägen. So bleibt mir und den Katzen das komplette Haus. Spätabends, während ich am Küchentisch sitze und in Walt Whitmans „Leaves of Grasss“ lese, das eine Couchsurferin bei meiner vorherigen Station vergessen hatte, wuselt Paul umher, kocht, murmelt, singt Lieder und spielt Gitarre dazu und schenkt mir von seinem Fruchtbier ein. Wir haben Glück.

5 Gedanken zu „Tag 16: Paul

  1. frag paul mal, ob er gionos „l`homme qui plantait des arbres“ kennt? aber wahrscheinlich bist du schon wieder auf dem weg. gute reise, johannes.

  2. Ich habe ja erst gedacht, dass Kirschbäume pflanzen in Schottland eine saudumme Idee sei. Zu kalt (&dunkel). Aber die Kinder scheinen ja was geerntet zu haben. Wieder was gelernt ..

  3. @egghat: Die Kirschen haben eher Wildkirschenformat, schmecken aber tatsächlich ziemlich gut. Interessant ist auch, dass die Erntezeit je nach Höhenlage Mitte August bis Mitte September ist – und die Höhenkirschen besonders gut zu ernten sind, weil es dort nicht so viele Vögel gibt.

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