Der Blick aus meinem Hotelzimmer täuscht etwas. Suwalki ist nicht schön, nimmt man einmal den Stadtpark aus. Es ist eine langgezogene Durchfahrtsstadt, die das Schicksal so vieler Grenzorte teilt: Niemand will hier bleiben.
Mein Hotel, das „Hańcza“, besticht ebenfalls durch den Charme der Tristesse und erinnert mich frappierend an das Berliner Verlagshaus. Gebäude, Personal und Ambiente würde ein Zeitreisender spontan in die UdSSR der Achtziger einordnen, die dunklen Teppiche, verrauchten Hotelzimmer und schummrigen Gänge würden Gerd Ruge wahrscheinlich ganz melancholisch machen.
Willkommen zurück, Herr Gorbatschow
Die Erkundung des Nachtlebens zeigt, dass es hier eher traditionell zugeht – und eigentlich das Leben in der Provinz überall in Europa ähnlich ist. Ich folge unauffällig einer Gruppe junger Menschen in der Hoffnung, sie zeigten mir den Ort, den man hier gesehen haben muss. Es stellt sich heraus, dass sie einen 24-Stunden-Markt anpeilen, um dort Alkohol zu kaufen. Alkoholgeschäfte spielen ohnehin eine zentrale Rolle in der Abendgestaltung, in der „Galeria Alkoholi“ am Stadtpark geben sich die Menschen die Klinke in die Hand. Übrigens finde ich, dass eine „Galeria Alkoholi“ um einiges lebensnäher als beispielsweise eine „Galeria Kaufhof“ wirkt.
Ein beschränktes Sortiment hat auch Vorteile (CC, Att-Share-Alike)
So wandere ich ziellos durch die Straßen und kann unter anderem durch ein Fenster eine Tanzgesellschaft im besten Alter (Hochzeit? Silberhochzeit?) beobachten, die engagiert die Hüften schwingt, während ein Fotograf auf Rollerblades (!) zwischen ihnen umherfährt und Bilder macht.
Als ich schon glaube, die bunten Lichter im örtlichen Handyladen seien die einzigen Diskolichter der Stadt, finde ich doch noch einen Pub/Club mit Tanzfläche. Während ich an der Bar noch ein paar Zloti loswerden will, tanzen ein paar Meter weiter kurzhaarige Jungs (Männer mit Frisuren sind an diesem Abend eher selten) mit äußerst jungen Frauen zu bester Eurodance-Mucke.
Saturday Night Fever (CC, Att-Share-Alike)
Diese ist es dann auch, die heute morgen durch den Gang schallt und mich aus meinen Träumen reist. Ein passender Start in den Tag, der heute in etwa 380 Kilometer Entfernung in Riga enden soll. Allerdings werde ich heute wohl das erste Mal in den Regen kommen.
Als ich vorhin das Video aufgenommen habe, war ich noch euphorisiert (nein, nicht bekifft). Nun erfahre ich, dass Christoph Schliingensief gestorben ist. Das ist traurig und ein Schlag für die deutsche Kulturszene. Soviel Anarchismus ist nie wieder.
Vielleicht hätte Schlingensief am zweiten Teil meiner heutigen Etappe in die Nähe der litauischen Grenze seine Freude gehabt, wieder einmal wird ein typisches Klischee erfüllt. Einem Romanautoren würde das der Lektor mit der Begründung „zu abgegriffen und unrealistisch“ rausstreichen.
Der heutige Tag gliederte sich eigentlich in drei Teile. Bis Mittag war ich in Warschau mit Straßenbahn und Bus unterwegs, um auf die Schnellstraße Richtung Nordosten zu gelangen. Dabei fuhr ich einmal mit der Tram in die falsche Richtung, dann mit dem Bus zu weit. Am Ende stand ich um kurz vor 13 Uhr an der Straße.
Was an der Stadtgrenze von Warschau passiert, bleibt auch an der Stadtgrenze von Warschau (CC, Attr-Share-Alike)
Doch wieder einmal werde ich vom Glück geküsst: Mit Mariusz und Lukasz nehmen mich zwei angenehme Zeitgenossen nacheinander mit. Beide fahren übers Wochenende zu ihren Eltern, und beide helfen mir, wo sie können, zeigen mir auf der Karte Alternativnummern, Mariusz gibt mir sogar seine Telefonnummer, falls ich in Polen Ärger bekommen sollte.
Im Laufe der Fahrten werden wir jedoch immer stiller, da die Landschaft Richtung Masuren immer sehenswerter wird. Nicht unbedingt spektakulär wie in Österreich oder Slowenien, sogar ein bisschen chaotisch reihen sich Felder, Bäume, Waldstücke und Häuser aneinander. Zwischendurch wird die Walderfahrung ein bisschen bizarr, als am Straßenrand Menschen Waldfrüchte und Pfifferlinge, wenige Meter weiter Frauen vereinzelt ihren Körper anbieten.
Und trotzdem ist es eigenartig schön, friedvoll, fast ein fahrendes Gemälde: Die kunstvoll gebauten Storchennester auf Telefonmasten, das Gelb der abgeernteten Getreidefelder, die Schilder, die vor Kühen warnen, eine alte Bauersfrau, der ihre Tochter aus dem Auto hilft. Es ist vielleicht die friedvollste Fahrt bislang, ich bin nicht auf der Straße, um an ein Ziel zu gelangen, sondern einfach um zu sein. Lukasz, der Feuerwehrmann ist, hat den Soundtrack zum Dylan-Film „I am not there“ eingelegt, und ich bin da, hier im Jetzt.
Unscheinbare Weiten (CC, Attr-Share-Alike)
Er lässt mich an einer Haltebucht (die Straße ist weiterhin einspurig und wird es auch bleiben) raus, wo ein wettergegerbtes Bauernpaar Kartoffeln, Karotten und Pflaumen verkauft. Ich hole mir ein paar Pflaumen, gleichgültig wickelt die Frau den Kauf ab, während ihr Mann stoisch auf die Straße blickt und nur ab und zu eine Pflaume in den Mund schiebt und sie geräuschvoll zerkaut. Ich lege mich ein paar Minuten ins Gras am Straßenrand und blicke in den Himmel. Ohne Gedanken, den perfekten Samstag erlebend.
Er guckt, die Frau wartet hinter dem Wagen, um dann zu verkaufen (CC, Attr-Share-Alike)
Der pastorale Teil meiner Reise endet, als mich wenige später zwei Jungs mitnehmen. L. und S. Sind auf dem Weg nach Augustow, um zu feiern. L. ist etwas fleischiger, trägt seine kurzen Haare offen, während S. sie unter einer Baseballkappe versteckt, beide haben ihre Waden ziemlich volltätowiert. L. verwendet das polnische Schimpfwort „Kurva“ ungefähr in jedem achten Wort, S. in jedem Dritten. S. arbeitet in einer Druckfabrik, L. ist arbeitslos. „Die ganze Zeit frei“, sagt er anerkennend, ist aber wohl selber nicht ganz begeistert davon.
Ich sitze auf dem Rücksitz und wir plaudern, die Jungs haben mir zur Begrüßung gleich eine 0,5-Liter-Dose Red Bull in die Hand gedrückt.. L. übersetzt für S. und überbringt mir die frohe Botschaft: „Ist Dein glücklicher Tag heute“, sagt er grinsend, „wir haben beschlossen, nach Suwalki zu fahren.“ Und er ergänzt: „Hast Du was dagegen, wenn wir Marihuana rauchen?“
Boys will be boys (alle Rechte vorbehalten)
Die beiden holen eine kleine Pfeife heraus, mit der sie sich schnell ein paar Köpfe ziehen. Ich lehne dankend ab, könnte aber etwas Beruhigung gebrauchen: L.’s Überholmannöver lassen für Risiko-Liebhaber keine Wünsche offen, gefährlich nahe kommt uns so mancher LKW auf der Gegenfahrbahn. Plötzlich halten die beiden mit einer Vollbremsung an einer Tankstelle an. „Ich hol mir ne Sonnenbrille, hab meine vergessen“, sagt L., wird dann aber nicht fündig.
Die nächsten 80 Kilometer höre ich viele „Kurvas“, bekomme den Zustand des polnischen Boxsports erklärt und gucke aus dem Fenster, wo nun eher Gewerbegebiete dominieren. An die riskanten Überholmannöver habe ich mich inzwischen gewöhnt, und als wir um fünf nach Suwalki einfahren, dröhnt aus den Boxen in höllischer Lautstärke „Black or White“ von Michael Jackson, während wir drei mit einer Kippe in der Gosche bestens gelaunt mitwippen. Auch das ist das Tramperleben, Samstagabend in eine neue Stadt einfahren und keine Pläne und Sorgen zu haben. Am Ende tauschen wir Telefonnummern und die beiden verschwinden in eine Bar. Falls ich sie später wiedertreffen sollte, dürften sie mir einige Biere voraus haben.
Show me the way to the next Whiskey bar (all rights reserved)
Es ist bereits dunkel, als ich bei meinem Couchsurfing-Gastgeber R. ankomme. Ich habe – wieder einmal – großes Glück: Er wohnt direkt im Zentrum, ich muss also nicht noch lange Wege mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen. Das imposante Haus, in dem er wohnt, hat die Größe eines kompletten Blocks, vor den Wohnungseingängen sind noch einmal extra abgeschlossene Gittertüren angebracht.
Als ich hereinkomme, gießt der Herr der Wohnung gerade seine Chili-Schoten, nebenbei läuft ein Laptop mit einer Serie. R. ist schlaksig, seine kurzen Hosen betonen die langen Beine noch zusätzlich, beim Laufen federt er so locker, dass es beinahe etwas ungelenkt wirkt. Ich habe nicht viel Zeit für R., da ich mich mit zwei Bekannten in der Stadt treffe – was mir ein ziemlich schlechtes Couchsurfer-Gewissen macht, zumal R. im Gespräch seine ziemlich trockene Weltsicht mit einem unwiderstehlichen australischen Akzent darlegt. So behauptet er, die polnische Sprache nicht zu lernen, weil sie „in jeder Rangliste unter den drei schwierigsten Sprachen der Welt liegt“. Seine Arbeit nimmt er nicht allzu ernst: „Ich arbeite nicht, ich unterrichte hier ein bisschen Englisch“, sagt er.
R. ist weder glücklich, noch unglücklich, dass er hier lebt: Er zog nach Warschau, um eine hier lebende Freundin zu trösten, deren Freund sich von ihr getrennt hatte. „Ich reiste geradedurch Deutschland und hatte nichts zu tun“, sagt er. Als ich frage, ob die Freundin immer noch hier lebt, antwortet er trocken: „Ja, und sie hatte inzwischen vier oder fünf Freunde.“
Belagerung bei Nacht (CC, Attr-Share-Alike)
Leider habe ich keine Zeit für ein tieferes Gespräch, weil ich zum Präsidentenpalast muss, wo meine Bekannten auf mich warten. Der Vorplatz des prächtigen Gebäudes ist aufgrund der Kreuz-Kontroverse inzwischen abgesperrt, auf der einen Seite steht die Polizei, auf der anderen Demonstranten. Zwischendurch kommt es immer wieder zu lautstarken Debatten zwischen Passanten, Demonstranten und denen, die sich einfach dazugestellt haben, um zu diskutieren. Inzwischen, so erzählen mir meine Bekannten, versucht der Gründer des radikal-katholischen Senders Radio Maria die Proteste zu eskalieren. „Er hat eine Art Armee, die hier immer aufläuft. Eine Armee, die vor allem aus alten weißhaarigen Frauen besteht.“
Warschau bei Nacht (CC, Attr. Share-Alike)
Als ich ein paar Stunden später zurückkehre, gießt R. Gerade wieder seine Pflanzen. Er scheint ähnlich fixiert darauf wie auf den Wunsch, keine unnötige Energie zu verschwenden. Schon vorhin hatte er das Licht in der Küche (in der meine Couch steht) ausgemacht, obwohl nur kurz im Gang stand, um mit ihm zu plaudern. Als ich beim Zähneputzen kurz das Bad verlasse, um meditativ aus dem Fenster zu sehen, springt er aus seinem Zimmer und knipst hinter mir das Licht aus. Die Mischung aus trockenem Humor, australischem Akzent und energetischer Pedanterie hätte ich gerne noch näher kennengelernt. Leider ruft am Samstagmorgen bereits wieder die Straße.
Nach sechs Tagen würde ich heute zum ersten Mal von einem normalen Tag auf der Straße sprechen. Was bedeuten könnte, dass ich inzwischen Routine habe. Nach der gestrigen Fahrt bin ich etwas sensationsverwöhnt, ich gebe es zu, was aber Begegnungen wie mit Sebastian, der mich etwa hundert Kilometer Richtung Warschau mitgenommen hat, nicht weniger wertvoll macht.
Sebastian ist Grafikdesigner, hat in Lodz studiert (wo im Sommer David Lynch residiert und auf der Prachtstraße beim Kippenrauchen anzutreffen ist, wie er mir erzählt) und wohnt nun in Krakau. „Krakau“, sagt er, „ist inzwischen viel zu sehr Partystadt geworden“. Wer hier abends durch die Straßen geht, kann ihm nur zustimmen.
Angenehme Typen auf der Schnellstraße (all rights reserved)
Leider kann ich außer Zustimmung nur wenig zur Konversation beitragen, zwischenzeitlich treibt mir die Müdigkeit die Tränen in die kleinen roten Augen. Ich bin inzwischen auch an einem Punkt, wo die Rastlosigkeit in manchen Momenten auch ein Gefühl der Ziellosigkeit entstehen lässt. Oder ist es etwas anderes? „Ich bin heute das erste Mal seit zwei Monaten daheim“, erzählt Sebastian, der seine Mutter besucht. „Und jetzt, wo ich die Umgebung wieder erkenne, merke ich, wie sie mir gefehlt hat.“ Könnte es sein, dass mich nach knapp einer Woche das erste Mal ein Gefühl des Heimwehs erreicht, das Bewusstsein eines Mangels der digitalen Kommunikation mit den Menschen, die mir etwas bedeuten? Die Erkenntnis, dass ich trotz des Blogs nur einen Bruchteil meiner Gedanken und Eindrücke schildern kann?
Ich kann diese Frage noch nicht beantworten, denn auch heute finde ich mich in Situationen wieder, die ich mir vorher nicht hätte ausmalen können. Schon bevor mich Sebastian aufgegabelt hatte, hatte ich erstmals an einer Stelle mit einer Konkurrenztramperin gestanden: Eine etwa 45-50jährige Frau mit einer Handtasche.
Ein harter Kampf auf Polens Straßen (CC, Att-Share-Alike)
Beim ersten Mal hatte ich noch im Grasgraben gewartet, bis sie eine Mitfahrgelegenheit gefunden hatte, doch als mich mein Fahrer 100 Kilometer vor Warschau aussteigen lässt, treffe ich auf eine ganze Gruppe von Trampern, die alle mit ihren Händen auf- und abwedeln (das polnische Anhalterzeichen).
Tradition verpflichtet (CC, Att-Share-Alike)
Ich muss mich den Kampf stellen, doch die Profis sind mir haushoch überlegen: Als ich von einer kurzen Pinkelpause wiederkomme, ist ein Großteil bereits unterwegs – nur eine ältere Dame im roten Kleid wartet noch. Ich stelle mich dem Duell: Ein Trucker fährt auf uns zu, bremst und hält an – vor der Dame. Sie steigt ins Führerhaus auf und winkt mich dazu. Ich springe rein, ziehe mit Mühe meinen Rucksack in die Kabine um dort zu erfahren, dass die Fahrt garnicht nach Warschau geht. Ich springe wieder ab, die rote Lady hat mich vernichtend geschlagen.
Wenig später finde ich dennoch den Weg in die Hauptstadt: Ein älterer Herr mit schütterem Haar, rotem Kopf und rotstichiger Sonnenbrille nimmt mich mit. Er hat ein Funkgerät dabei und die Sprüche, die er dort absetzt, erscheinen mir eher gelallt als gesprochen. Wir verständigen uns mit Händen und Füßen, wobei sich herausstellt, dass er bereits seit 20 Stunden unterwegs ist, was er mit genau der wegwerfenden Handbewegung begleitet, die er eigentlich bei jedem Thema einsetzt.. Als ich ihm von meinen Reiseplänen erzähle, setzt er sofort seine Kumpels per Funk davon in Kenntnis „Tourista“, „Monachium“ (das polnische Wort für München), „Oslo“ höre ich heraus. Die wegwerfende Handbewegung bleibt aus. Vielleicht glaubt er mir aber auch einfach nicht.
Kurze Orga-Anmerkung: Da samstags keine LKW fahren, werde ich es wahrscheinlich nicht bis nach Litauen schaffen. Ich plane deshalb, erst einmal Suwalki im Norden Polens anzusteuern. Danzig wäre auch toll, aber wegen Kaliningrad ziemlich schwierig, von dort wegzukommen. Ich rechnet damit, dass die baltische Route etwas länger als geplant dauern wird. Wahrscheinlich lautet der Plan deshalb: Suwalki – Kaunas – Riga – Tallinn. Das wären vier Tage und ich wäre erst Mittwoch in Skandinavien, und damit nicht wie geplant zur Halbzeit in Oslo. Wir werden, das hier ist ja kein Rennen und der harte Teil der Tour kommt noch.
Hier ein paar Eindrücke aus Krakau, wer wissen möchte, wie ich hierher gekommen bin, sollte „Tag 5: Zum Tee zu Gast“ lesen.
Schatten in der MorgenluftTramper mit Schutzengeln (CC, Att-Share-Alike)Trompeter ist beim Frühstück (CC, Attr.Sh-Alike)Polens Kreuz mit dem KreuzSeelenfänger (CC, Att-Sh-Alike)
Auf meinem Rundgang habe ich dann auch noch Michal getroffen, einen Studenten aus Danzig. Er geht heute auf ein Festival in Krakau, bei dem u.a. Muse und die Chemical Brothers spielen. „This is even more beautiful than Gdansk“, gibt er sich in gebrochenem Englisch entrüstet, „but I think I have seen all in three hours.“ Am Ende machen wir noch ein Bild zusammen. Wenn ich einmal eine Skateboard-Gang gründe, dann mit Michael zusammen.
Ein Tramper schnorrt sich durch (by me, all rights reserved)
Ich habe es nach Krakau geschafft, und wenn ich mir die Strecke mit ihren Kurven und Hügeln ansehe, kann ich mich nur wundern. Das war in jedem Falle kein Katzensprung, die vielen Tramper, die in der Slowakei an der Straße standen, geben ein Zeichen davon.
Hierher zu kommen, habe ich zwei Menschen zu verdanken. Einer davon ist Jusztusz. Er gabelte mich in Budapest auf, nachdem ich bereits mehrere Kilometer entlang des Autobahnzubringers unterwegs gewesen war. Mit ihm ging es ein Stück auf der M 2 entlang, der ungarischen Autobahn, die diesen Namen nicht wirklich verdient: Über viele Strecken eine einzige Spur, dazu kamen uns noch Fahrräder und Fußgänger entgegen. Wahrscheinlich ist das eine ungarische Tarnung, mit der die EU-Bürokraten während der Beitrittsverhandlungen von der Qualität des Straßennetzes überzeugt werden sollten. Ein Ausbau ist auch nicht in Sicht: Die Slowakei und Ungarn verstehen sich auf politischer Ebene unabhängig von den politischen Parteien nicht. Da lässt man lieber den Schwerverkehr einspurig dahinkriechen.
Zwei Spuren? Nicht doch. (CC, Att-Sh-Alike)
Als mich Justusz an einer Bushaltebucht (!) an der „Autobahn“ absetzt, dauert es keine fünf Minuten, da hält bereits ein LKW. In ihm sitzt E.. Warum ich ihn so nenne, werde ich gleich erklären. Zunächst aber einmal habe ich wieder Glück: E. Ist Türke, spricht aber fließend deutsch, weil er bis zum Teenageralter in Deutschland gelebt hat. Glückskind, Teil II: E. Ist auf dem Weg nach Polen und durchquert Krakau.
Die kommenden Stunden werden sehr lustig, aber auch relativ privat. Ich habe mich deshalb entschieden, E.’s vollen Namen nicht zu nennen (den entsprechenden Tweet habe ich auch gelöscht, die Initiale ist zufällig gewählt) und kein Bild mit ihm zu zeigen.
Wie dem auch sei: E. hat viel zu erzählen, von Deutschland, von seinem Leben, davon, wie er häufiger Tramper mitnimmt. Er hat Frau und Kind in der Türkei, ist aber mehrere Wochen nacheinander unterwegs. Sein jüngstes Kind hält ihn für einen Fremden, weshalb er in ein, zwei Jahren mit dem Fahren aufhören möchte – dann hat er das Geld zusammen, um sein Haus fertig zu bauen. An seine Zeit in Deutschland erinnert er sich gerne, seinen Schulfreund … sucht er immer noch. „Ich habe schon überall geguckt, auch auf Facebook, es gibt zu viele mit dem Namen“, klagt er. Ich schlage vor, nach der Schule zu suchen, worauf E.lachend entgegnet: „Wir waren auf einer Schule für Lernbehinderte, das wird er kaum ins Internet stellen.“
Kein Verkehrsfunk, der uns gewarnt hätte (CC, A-S-Alike)
E. redet so viel, dass er in einer ungarischen Ortschaft eine Radarkontrolle übersieht. Der Polizist will ihn in Forint abkassieren, die Währung hat E. aber nicht dabei. Nach einer kurzen Diskussion steckt er dem Beamten 20 Euro zu, was die Hälfte von dem ist, was er normalerweise hätte bezahlen müssen. Korruption, erzählt E., ist auf vielen Autobahnen Südosteuropas gang und gäbe. In Bulgarien und Rumänien würden Autobahnpolizisten immer fünf Euro Wegzoll verlangen. In den Bergen der Slowakei hat der Räumungsdienst eine raffinierte Methode entwickelt: Beim Schneefall bremsen die Schneepflug-Trucks bergauf einfach den LKW hinter sich aus, worauf dieser nicht mehr anfahren kann und steckenbleibt. Ein paar Minuten später kehrt der Räumdienst von oben zurück, um scheinheilig anzubieten, den Truck für 50 Euro hochzuschleppen.
Es ist angerichtet (all rights reserved)
An der Grenze zwischen Ungarn und der Slowakei machen wir eine Rast und treffen auf fünf andere türkische Fahrer. Auf einer Pfanne kochen sie ein ziemlich scharfes wie leckeres Gericht mit Fleisch und Lauch (ich beschränke mich auf den Lauch) und lassen mich natürlich am Mahl teilhaben. Ich verstehe kein Wort von dem, was sie reden, aber es geht wohl um Vorkommnisse auf der Autobahn und Fußball. Bevor es weitergeht, trinken wir noch einen Tee. Schnell lasse ich mir zum Abschied von E. die türkische Übersetzung für „vielen Dank“ zuflüstern und schon geht es weiter.
Seitenfensterblick, verweile doch (CC, Attr-Share-Alike)
Wer die Slowakei Richtung Polen durchquert, muss zwei große Berge überwinden. Immer wieder preschen Autos mit waghalsigen Überholmanövern auf der einspurigen Straße vor. Wir fahren über unzählige Flüsse, um uns herum dunkle Berge mit Nadelwald und ab und an eine Radarkontrolle auf der Strecke. E. Und ich diskutieren über Gott und die Welt, sogar im Wortsinne: E. Glaubt daran, dass der Islam einmal die einzige Religion auf der Welt sein wird. Dies steht im Koran geschrieben, gibt er sich überzeugt, ebenso wie die Erfindung des Fernsehers, des Internets und der Homo-Ehe. Bei näherer Nachfrage stellt sich heraus, dass er diese gewagte Medien-Theorie aus dem Fernsehen hat – ihn davon abzubringen, wäre dennoch hoffnungslos.
Wanderer, willst Du nach Polen
Ein paar Mal erzeugen seine Geschichten auch Entsetzen bei mir. So erzählt er davon, wie einmal serbische Polizisten vor seinen Augen einen Zigeuner totgeschlugen und ihn dann einen Abhang hinunter warfen. „Es ist richtig, dass die das dürfen, wer aufmuckt, gleich plattmachen“, sagt er. Ähnlich grauenhaft ist die Schilderung seiner Militärzeit in den Kurdengebieten, eine Volksgruppe, auf die er alles andere als gut zu sprechen ist. Auf der anderen Seite begreife ich durch seine Geschichten auch, wie Fernfahrer ein Doppelleben führen können, ohne dass es sich so anfühlen muss. Auch über Mentalität und Physis verschiedener Frauen der Region erhalte ich ausgiebig Auskunft.
Rübermachen (CC, Attr-Share-Alike)
Nach einem Kaffee an der malerischen Grenze zu Polen, wo die Autobahnpolizei nach E.’s Ansicht türkische LKW sehr gerne stoppen und die Fahrer schickanieren, rollen wir unter dicken Regenwolken Richtung Krakau. Die restliche Zeit verbringe ich damit, die Sicherheitseinstellungen seines Laptops zu verbessern, was sich allerdings bei einer türkischsprachigen Oberfläche als ziemlich schwierig herausstellt. Zwischendurch legt sich E. den Computer aufs Lenkrad, das er mit einer Hand bedient, während er ein Auge auf den Bildschirm, ein anderes auf den Verkehr hat. Bei Sonnenuntergang schmeißt er mich an einer Bushaltestelle am Autobahnzubringer von Krakau raus. Ich bin in seinem Haus jederzeit willkommen, er verspricht, bald einen München-Besuch einzuplanen.
Krakau und ein weiterer Pfadfinder hinter der Kamera